Klaus Mäkelä

Siebenmal Sibelius mit Klaus Mäkelä

»Dann fließt die Musik wie von selbst« – der finnische Stardirigent spricht über seinen Sibelius-Zyklus und was er an dieser Musik so liebt.

»Läuft bei ihm!«, würde es im Jugendsprech wohl über Klaus Mäkelä heißen. Und irgendwie passt dieser Slang zu dem jungen Finnen mit der leicht nerdigen Brille und dem verschmitzten Lächeln. Und wie es läuft: Studiert hat er in seiner Geburtsstadt Helsinki – zunächst Cello, dann vor allem Dirigieren. Aus einer Musiker-Dynastie stammend – der Großvater ist Geiger und Bratschist, der Vater Cellist, die Mutter Pianistin und seine Schwester tanzt im finnischen Nationalballett –, gelang ihm ein wahrer Senkrechtstart in seine Dirgentenkarriere. Seit 2020 ist er Chef beim Oslo Philharmonic Orchestra, seit der Saison 2021/22 tritt er als Musikdirektor des Orchestre de Paris in die Fußstapfen großer Namen wie Daniel Harding, Paavo Järvi und Christoph Eschenbach.

Den langen Lockdown im vergangenen Frühjahr hat Klaus Mäkelä mit dem Oslo Philharmonic im Aufnahmestudio verbracht, um alle sieben Sinfonien von Jean Sibelius (1865–1957) einzuspielen. Und mit diesen sieben Klassikern des finnischen Nationalkomponisten gastiert Mäkelä nun auch in Hamburg.

Klaus Mäkelä
Klaus Mäkelä © Philipp Seliger

Klaus Mäkelä im Interview

Erinnern Sie sich, wann Sie das erste Mal bewusst Musik von Sibelius gehört haben?

Eine konkrete Erinnerung habe ich da gar keine, Sibelius war einfach immer da. Das liegt wohl daran, dass er in Finnland allgegenwärtig ist. Er ist so eng mit unserer Kultur verknüpft, dass ich seine Musik wahrscheinlich schon sehr früh gehört habe, ohne zu realisieren, von wem sie eigentlich stammt. Sehr gut erinnere ich mich aber an das erste Mal, als ich eine seiner Sinfonien gespielt habe. Das war mit dem Philharmonischen Orchester Helsinki, ich war damals 16 und habe Cello gespielt.
 

Welche Rolle hatte Sibelius danach für Sie als Dirigent?

Als finnischer Dirigent gibt es quasi keinen Weg vorbei an Sibelius, es wird fast schon von uns erwartet, dass wir ihn spielen. Ich bin dafür sehr dankbar, weil er eine so große Tiefe besitzt. Allein in seinen sieben Sinfonien finden wir die passende Gemütslage für jeden Schritt oder jedes Kapitel in einem Dirigentenleben.

Aus den ersten Sinfonien sprechen noch die Leidenschaft und die Enttäuschungen eines jungen Menschen; am Ende finden wir zunehmend die Weisheit eines älteren Mannes, der zu immer mehr Klarheit im Ausdruck findet, statt die Emotionen ungezügelt fließen zu lassen.

Klaus Mäkelä im Gespräch mit Barbara Lebitsch (Künstlerische Betriebsdirektorin der Elbphilharmonie)

Wenn für Sie als Finne also Sibelius’ Musik in der DNA liegt – wie sieht es damit bei Ihrem norwegischen Orchester aus?

Das Oslo Philharmonic gehört zu den skandinavischen Traditionsklangkörpern mit einer mittlerweile 100 Jahre alten Geschichte. Sibelius selbst hat mehrere Konzerte mit dem Orchester gegeben, bei denen er seine 1. Sinfonie dirigiert hat, und danach gab es mehrere finnische Chefdirigenten wie Okko Kamu und Jukka-Pekka Saraste. Da ist also eine natürlich gewachsene Vertrautheit mit dieser Musik. Und das ist wichtig, denn Musik ist eine Sprache, und wie bei jeder Sprache muss man die Grammatik verstehen und die Aussprache lernen. Erst dann kann man sich richtig ausdrücken.
 

Was macht sie denn aus, die Sprache von Sibelius?

Er hat sozusagen die überwiegend von deutschsprachigen Komponisten geprägte spätromantische Tradition fortgeführt. Daraus hat er einige Elemente übernommen, aber gleichzeitig einen ganz eigenen Stil gefunden, vor allem in der Orchestrierung und der Gestaltung. Eine seiner größten Stärken ist für mich etwa sein Gespür für die Architektur eines Werkes, für die richtigen Proportionen.

Jean Sibelius
Jean Sibelius © Lehtikuva / Wikimedia

Wo können wir das hören?

Nehmen wir zum Beispiel die Siebte, die wird von einem großen Atem, einem großen Bogen zusammengehalten. Und trotzdem sagt Sibelius hier alles, was Mahler etwa in seiner Dritten ausdrückt. Er braucht dafür aber nur 20 Minuten und nicht anderthalb Stunden. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe Mahlers Musik – ich will einfach nur verdeutlichen, wie ausgeprägt Sibelius’ Meisterschaft war, zu einer verdichteten, kondensierten Form zu finden.
 

War das eine Entwicklung in seinem Schaffen, oder war diese Meisterschaft von Anfang an vorhanden?

Die ersten beiden Sinfonien sind noch mehr der spätromantischen Tradition verhaftet: Es sind wundervolle Werke, schon sehr originell, aber eben doch noch traditionell. Das ändert sich mit der 4. und der 5. Sinfonie, darin zeigt sich Sibelius’ reifer sinfonischer Stil. Übrigens nicht nur, was die Form und Architektur angeht, sondern auch in der Textur. Vor allem in den Streichern finden wir bei ihm eine Struktur, eine Art musikalisches Gewebe, das wirklich neu ist und das beim ersten Blick in die Noten keinen Sinn zu ergeben scheint. Das ist eine der Herausforderungen seiner Musik, diesen sehr speziellen, schwebenden Klang zu finden. Plötzlich kann sich aus diesen Texturen eine Melodie entwickeln, die sich dann wieder in Struktur auflöst. Das alles ist Teil seiner ganz persönlichen Grammatik, von der wir eben gesprochen haben.


Haben Sie ein Beispiel für so einen typischen Sibelius-Moment?

Jede der Sinfonien hat ihre ganz eigenen Kuriositäten und spektakulären Momente, besonders im Hinblick auf die Orchestrierung. Eine Stelle, dir mir sofort in den Sinn kommt, stammt aus dem 1. Satz der 5. Sinfonie, an der die Streicher eine dieser unverkennbaren Sibelius-Texturen spielen. Wenn man in die Partitur schaut, sieht man diese ganzen kleinen Noten und fragt sich, wie zum Teufel das jemals exakt zusammenklingen kann.

Doch eben das wollte Sibelius gar nicht – es soll gar nicht exakt zusammen sein, weil erst durch die kleinen Verschiebungen der einzelnen Streicherstimmen dieser unverkennbar schwebende Klang entsteht, den es auch bei Ligeti gibt. Das ist wie in einem Ameisenhaufen: Auf den ersten Blick wuselt dort alles chaotisch durcheinander, aber jede einzelne Ameise folgt einem übergeordneten Prinzip. Jedenfalls, über dieser Streichertextur erklingt dann ein Fagott-Solo – und das ist für mich einer der typischen, originellen Sibelius-Einfälle.

 

Klaus Mäkelä im Stream

Konzert-Streams mit Klaus Mäkelä in der Elbphilharmonie Mediathek

Ein besonderer Moment in Sibelius’ Fünfter Sinfonie

 

Einen starken Einfluss auf Sibelius’ Musik hatte das finnische Nationalepos »Kalevala«, das Kompositionen wie »Kullervo« oder der »Lemminkäinen-Suite « zugrunde liegt. Gibt es diesen Einfluss auch in den Sinfonien, oder sind die eher absolute Musik ohne programmatischen Inhalt?

In den frühen Sinfonien gibt es vielleicht noch solche Einflüsse, auch wenn Sibelius selbst sie nicht als Programmmusik verstanden hat. Die 2. Sinfonie wurde zum Beispiel als politisches Werk aufgefasst: Nach dem aufgewühlten 2. Satz folgt am Ende ein heroisch-optimistisches Finale, was damals als Statement zum Konflikt zwischen Russland und Finnland angesehen wurde, obwohl das nicht die Absicht des Komponisten war.

Doch später ging es Sibelius ausschließlich um den möglichst puren musikalischen Ausdruck, wie er ihn exemplarisch in seiner 7. Sinfonie erreicht hat. Er beschränkt sich hier auf ein Minimum an Mitteln, und trotzdem hat alles eine perfekte Form und Harmonie.


Spielen die Umstände seines bewegten Lebens denn eine Rolle beim Verständnis seiner Werke?

Auf jeden Fall hatte er einen wirklich spannenden Charakter: Sibelius war ein sehr sozialer Mensch, hatte gerne Gesellschaft, trank und rauchte gerne und viel – und gleichzeitig wusste er, dass er zum Arbeiten die Isolation braucht. Mit diesem Zwiespalt hatte er stets zu kämpfen, war teilweise auch depressiv. Doch wenn wir über Kunst sprechen, ist es immer schwierig, sie mit der Biografie ihrer Schöpfer zu erklären.

Auf der anderen Seite gibt es Werke wie die 4. Sinfonie, die verbunden sind mit den extremen persönlichen Lebensumständen: Sibelius hatte damals einen Tumor im Hals, musste operiert werden, gleichzeitig starb eine seiner Töchter. Das spiegelt sich auch in der Musik wider. Karajan hat einmal gesagt, dass Mahlers Sechste und Sibelius’ Vierte die einzigen Werke sind, die in einem kompletten Desaster enden.

 

Klaus Mäkelä Klaus Mäkelä © Marco Borggreve

»Am Ende der Vierten Sinfonie von Sibelius gibt es nichts mehr zu sagen, nur noch Leere.«

Klaus Mäkelä

Sibelius’ Musik klingt oft voll und dunkel – hatte er eine Vorliebe für tiefe Register?

Für die ersten vier Sinfonien stimmt das, die sind von einem wirklich dunklen Klang geprägt, vor allem natürlich die Vierte mit ihren vielen bassbetonten Stellen. Mit der 5. Sinfonie ändern sich die gravitätischen Verhältnisse aber, hier gibt es immer öfter helle Holzbläserklänge und eine Art klassisches Ideal bei den Blechbläsern. Nehmen wir zum Beispiel die Posaunen, die stehen in den ersten Sinfonien noch für urwüchsige, quasi mythologische Kraft, später sind sie viel stärker sophisticated.
 

Die Fünfte ist also der Wendepunkt, was ändert sich hier in der Musik?

Von der 5. Sinfonie gibt es drei Fassungen, allein daran erkennen wir ihren besonderen Stellenwert. Die erste Version komponierte Sibelius 1915, das war seine Reaktion auf die europäische Moderne. Er hat ganz genau mitbekommen, was kompositorisch los war in der Welt, und hat sich intensiv damit auseinandergesetzt. Offenbar war er mit dem Ergebnis aber nicht glücklich und schrieb ein Jahr später eine neue Fassung, mit der er immer noch nicht zufrieden war. Erst 1919 entstand die finale Fassung.

Und die Mühe hat sich gelohnt: Die erste Version ist zwar charmant mit ihren schrägen Dissonanzen und ihrer eigentümlichen Tonsprache, aber sie hat doch einen skizzenhaften Charakter. Am Ende dieses Prozesses findet er mit der finalen Fassung dann aber zu einer stimmigen Form, die einer inneren Logik folgt, obwohl er auch hier die Grenzen von Form und Tonalität erweitert. Grundsätzlich können wir sagen, dass Sibelius’ Musik am Anfang noch robuster, rustikaler klang – es ging ihm in den frühen Werken vor allem um Spannung. Später jedoch stand mehr der musikalische Fluss im Zentrum – und in der Fünften können wir diese Änderung hören.

Klaus Mäkelä Klaus Mäkelä © Marco Borggreve

»Durch die intensive Auseinandersetzung ging uns diese Musik wirklich in Fleisch und Blut über.«

Anfang 2021 waren Sie mit dem Oslo Philharmonic im Aufnahmestudio, um den kompletten Sinfonien- Zyklus einzuspielen. Das klingt nach einer ziemlich intensiven Zeit mit Sibelius. Wie haben Sie diese erlebt?

Das war eine merkwürdige Situation, weil zu dieser Zeit das öffentliche Leben in Norwegen komplett stillstand. Die Straßen waren wie leergefegt, während wir mit 1,5 Metern Abstand im Studio saßen. Die Bedrohung durch die Pandemie und gleichzeitig die große Freude darüber, überhaupt Musik machen zu können, haben für eine ganz spezielle Atmosphäre bei den Aufnahmen gesorgt.

Weil keine Konzerte stattfinden konnten, hatten wir auch viel mehr Zeit dafür als sonst üblich, wir waren für mehrere Wochen im Studio und konnten uns ausschließlich auf Sibelius konzentrieren. Das wäre im regulären Konzertbetrieb gar nicht möglich gewesen. Durch diese intensive Auseinandersetzung ging uns seine Musik wirklich in Fleisch und Blut über, wurde noch selbstverständlicher für uns.
 

Was ist die größte Herausforderung für eine schlüssige Sibelius-Interpretation?

Die innere Logik eines Stücks zu entschlüsseln, denn als Dirigent muss ich den Musikern das Gefühl geben, dass sie mit der Substanz, dem Gehalt eines Werkes verbunden sind. Im Fall von Sibelius bedeutet das einiges an präziser Arbeit, weil seine Musik nicht von alleine lebendig wird. Das ist auch gut so, weil wir so die Bedeutung der Einzelteile, jeder Textur, jeder Geste hinterfragen müssen, um sie in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen. Wenn das gelingt, dann fließt die Musik auf einmal wie von selbst.
 

Ihre ersten Sibelius-Schritte sind Sie auf dem Cello gegangen, bleibt dafür überhaupt noch Zeit bei Ihrer Dirigentenkarriere?

Ich versuche es zumindest, weil für mich als Dirigent eine körperliche Verbindung zum Klang wichtig ist. Schließlich fordere ich von den Musikern, Dinge auf eine bestimmte Art zu spielen. Wenn ich von Zeit zu Zeit also selbst am Instrument sitze, verliere ich zu diesem Prozess nicht den Kontakt, es erdet mich. Ich dirigiere heute zwar überwiegend, aber im Herzen bin ich immer noch Cellist.


Interview: Bjørn Woll, Stand: 23.03.2022

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