Text: Friedrich Geiger, 6. April 2025
Von »Zukunftsmusik« spricht heute, wer eine Idee oder ein Projekt als unrealistisch, utopisch, jedenfalls noch weit von der Verwirklichung entfernt bezeichnen möchte. Dass ausgerechnet die Verbindung mit Musik sprichwörtlich geworden ist, und nicht etwa »Zukunftsliteratur«, »Zukunftstheater« oder »Zukunftsmalerei«, hat mit der Popularität Richard Wagners zu tun, gegen den das Schlagwort vor rund 175 Jahren gemünzt wurde. Doch auch aus einem anderen Grund eignet es sich perfekt als Synonym für Luftschlösser: Die musikalische Kunst arbeitet mit Tönen, einem immateriellen, nicht greifbaren und nichtbegrifflichen Baustoff. Sie scheint wie geschaffen, um sich mit dem (noch) Unwirklichen zu befassen und auf Kommendes vorauszuweisen. Deshalb kann man zwischen Musik und Zukunft die vielfältigsten Verbindungen beobachten.
Internationales Musikfest Hamburg 2025
Programmatische Höhepunkte zum Saisonfinale: Die großen Hamburger Orchester und hochkarätige Gäste widmen sich bei dieser Ausgabe mehr als fünf Wochen dem Motto »Zukunft«
»Nirgends wird an den Gesetzen der Musik gerüttelt, ohne dass auch die höchsten Gesetze des Staates ins Wanken geraten. Darum ist die Musik der wichtigste Teil der Erziehung. Rhythmen und Töne dringen am tiefsten in die Seele und erschüttern sie am gewaltigsten. Sie machen bei richtiger Erziehung den Menschen gut, andernfalls schlecht.«
Platon
Seit der Philosoph Platon im 4. Jahrhundert vor Christus die große Bedeutung der Musik für den idealen Staat herausstellte, wird ihr in literarischen Entwürfen besserer Gesellschaften eine tragende Rolle zugewiesen. Künstlerische Strömungen, die wie der italienische und russische Futurismus eine rasche Überwindung gegenwärtiger Verhältnisse und umfassende Innovation propagieren, nutzen die Musik als zentrales Ausdrucksmittel, um ihre Visionen zu artikulieren. So baute der Komponist und Maler Luigi Russolo 1913 spezielle Geräuscherzeuger, so genannte »Intonarumori«, deren maschinenartige Klänge in einer technischen Welt herkömmliche Instrumente ersetzen sollten. In Russland experimentierten um dieselbe Zeit Komponisten wie Alexei Stantschinski oder Arthur Lourié, die an die Pionierarbeit Alexander Skrjabins anschlossen, in ihrer Klaviermusik mit Techniken, die von dem etablierten Dur-Moll-System wegführen sollten.
Und bis heute sind in den Soundtracks von Science-Fiction-Filmen oder Fantasy-Computerspielen ungewohnte Klänge das Mittel der Wahl, wenn es gilt, eine futuristische Atmosphäre zu verbreiten.
Luigi Russolo: Serenata per intonarumori e strumenti
Gefühle und ein Glas Bier komponieren :Wie Musik Bedeutung schafft
Sieht man sich die Verwendung der Musik in solchen Zusammenhängen genauer an, zeigt sich rasch, dass es neben der Immaterialität drei weitere Eigenschaften sind, die Musik für die Zukunftsschau interessant machen. So ermöglicht sie durch ihre Fähigkeit, Emotionen zu wecken, dass sich Hörer:innen auch mit utopischen Inhalten identifizieren können. Ferner kann sie außermusikalische Sachverhalte beschreiben. Hierzu dienen elementare Raum- und Bewegungsanalogien wie hoch, tief, schnell, langsam, fließend oder hüpfend, die seit der Antike beschreibend eingesetzt werden.
Aber auch entwickelte Bedeutungskonventionen ermöglichen es, Zukunftsvorstellungen klanglich zu illustrieren – zum Beispiel, dass das Tamtam wie in Alban Bergs »Wozzeck« als Klangsymbol von Tod und Ewigkeit oder die Solovioline als Personifikation der menschlichen Seele gilt. Dieses Potenzial hat sich im Lauf der Musikgeschichte so weit ausdifferenziert, dass sich Richard Strauss nur halb ironisch rühmte, ein Glas Bier so präzise komponieren zu können, dass man höre, ob es Pilsener oder Kulmbacher sei.
Eine Besonderheit der Musik ist die Fähigkeit, zeitliche Verhältnisse und Prozesse abzubilden. Seit Ludwig van Beethoven galten völlig neue Maßstäbe hinsichtlich der kompositorischen Gestaltung von Rückverweisen, Antizipationen, Beschleunigungen, innehaltenden Pausen und Zielrichtungen. Insbesondere für größere Werke bildete sich das Ideal satzübergreifender, zielgerichteter, in ein schlüssiges Ende mündender Entwicklungen heraus. Das Finale des sinfonischen Satzzyklus, bis zu Beethoven meist in einem heiteren Kehraus-Charakter gehalten, geriet allmählich zum Zielpunkt einer dramaturgischen Kurve. Dabei gehörte seit Beethoven der Rückschlag, die Überwindung von Hindernissen zu einem triumphalen Ende hin, zur Grundausstattung sinfonischen Komponierens. Es liegt auf der Hand, dass sich das kompositorische Modell »durch Nacht zum Licht«, das Beethoven am deutlichsten in der 5. und 9. Sinfonie inszenierte, ideal für Zukunftsvisionen eignet – den Missbrauch für politische Propaganda, die goldene Zeitalter verheißt, eingeschlossen.
-
Bedeutung von »Per Aspera ad Astra« (Durch die Nacht zum Licht)
»Per aspera ad astra«, wörtlich: »durch das Raue zu den Sternen«, ist eine lateinische Redewendung, die bedeutet, dass man durch Mühen und Hindernisse zum Happy End kommt. In der Musik heißt das, dass auf etwas Angespanntes wie bedrohliche Klänge oder dramatische Wirrungen ein triumphales Finale oder eine friedliche Erlösung folgt – eine Struktur, die vor allem auf Beethovens Kompositionen zurückgeht.
Diskurse über die Zukunft der Musik
Doch nicht nur die Musik selbst, auch das Sprechen und Schreiben über sie ist von Zukunftsdiskursen geprägt. Dabei schwingt nicht selten eine tief sitzende Angst vor dem Unbekannten und Unvertrauten mit. Mitunter kippt diese Angst auch in aggressive Abwehr, etwa bei dem Komponisten Hans Pfitzner. Er veröffentlichte 1917 die Broschüre »Futuristengefahr«, worin er gegen seinen Kollegen Ferruccio Busoni und dessen »Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst« argumentierte.
Offenkundig fühlte sich Pfitzner durch Busonis einflussreiche Überlegungen, wohin sich die Musik entwickeln könne, bedroht, weil er sie als »Ablehung alles bisher Dagewesenen« und Busoni wegen seiner italienischen Herkunft als Vertreter des radikalen Futurismus auffasste, der mit jeglicher Tradition brechen wolle. Busoni legt das jedoch nirgends nahe. Im Gegenteil spricht er ausdrücklich davon, dass alle gültigen Errungenschaften der Musikgeschichte zu bewahren seien, worüber Pfitzner in seinem angstgetriebenen Furor aber hinweglas.
Richard Wagner sieht sich im Ziel der Musikgeschichte
Verkörperte Pfitzner ein traditionalistisches Konzept, so steht am anderen Ende des Spektrums ein explizites Fortschrittsdenken in der Musik, dessen Ursprung sich ziemlich genau auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datieren lässt. Erst damals bildete sich eine bestimmte Form der Prognose – wörtlich Vor-Erkenntnis – heraus, die den weiteren Entwicklungsgang der Musik entwarf.
Die wirkungsmächtigste Spielart ist dabei das produktionsästhetische Programm, ein antizipierendes Beschreiben der eigenen Kompositionspläne. Richard Wagner begründete das Genre zwischen 1849 und 1851 in seinen Schriften »Das Kunstwerk der Zukunft« und »Oper und Drama«. Darin erläuterte er detailliert die Grundsätze, an denen sich sein Schaffen in Zukunft orientieren werde. Diese Form der projizierten, im konkreten Werk erst einzuholenden Produktionsästhetik war für die Musik etwas völlig Neues – so neu, dass das Jahr 1850, in dem »Das Kunstwerk der Zukunft« erschien, als Geburtsjahr der musikalischen Avantgarde bezeichnet worden ist.
»Die Oper ist ein Irrtum; denn in diesem Kunstgenre ist ein Mittel des Ausdrucks – die Musik – zum Zweck, der Zweck des Ausdrucks – das Drama – aber zum Mittel gemacht.«
Richard Wagner in »Oper und Drama«
Die Grundsätze seiner zukünftigen Arbeit stellte Wagner jedoch nicht einfach auf, sondern leitete sie mit beträchtlichem Aufwand aus dem bisherigen Verlauf der Musikgeschichte her. Das entsprach dem im 19. Jahrhundert überall aufkommenden Geschichtsbewusstsein, dem Historismus, der aus den Lehren der Vergangenheit bald auch Zukunftsprognosen ableitete. Dabei instrumentalisierte Wagner historistisches Denken insofern für die eigene Legitimation, als er die bisherige Geschichte der Musik folgerichtig auf sich selbst zulaufen ließ. Damit etablierte er eine strategische Zukunftsschau, bei der aus dem Rückblick eine Entwicklungslogik abgeleitet wird, gemäß der dann die eigenen künstlerischen Vorhaben dem notwendigen Fortschreiten der Musikgeschichte entsprechen.
Dieses Modell kompositorischer Verlautbarung entfaltete eminente Nachwirkung. Allein über die Argumentationsstruktur der Proklamationen und Manifeste ließe sich eine zeitlich wie geographisch weit ausgreifende Linie der Wagner-Rezeption konstruieren, auf der Arnold Schönberg und seine Schüler ebenso anzusiedeln wären wie die internationalen Spielarten des Futurismus, John Cages Credo »The Future of Music« von 1937 oder Karlheinz Stockhausens Selbstkommentare.
Pierre Boulez sucht neue Wege
Der französische Komponist Pierre Boulez, der vor 100 Jahren geboren wurde, hat diese Linie vielleicht am kompromisslosesten vertreten. Gemeinsam mit Stockhausen und anderen knüpfte er zu Beginn der 1950er Jahre an Schönbergs Idee an, Kompositionen mithilfe einer verbindlichen Zwölftonreihe so zu organisieren, dass alle Tonhöhen gleiches Gewicht hätten. Auf diese Weise sollten Anklänge an traditionelle, grundtonbezogene Verhältnisse in der Musik vermieden werden. Die konsequente Weiterentwicklung sah Boulez dann darin, nicht nur die Höhe der Töne, sondern auch andere ihrer Eigenschaften – wie Dauer, Lautstärke oder Artikulation – durch zuvor festgelegte Reihen jeder Assoziation an Gewohntes zu entziehen. »Ich wollte aus meinem Vokabular«, so der Komponist rückblickend, »absolut jede Spur des Überkommenen tilgen«.

Boulez’ Ziel war eine von Geschichte bereinigte Musik, »die nicht von Anfang an durch Fremdkörper – stilistische Reminiszenzen im Besonderen – verdorben sei«. Tatsächlich glückten ihm mit dieser seriellen Technik Werke, deren kristalliner, prismatischer Klangzauber auch heute noch fasziniert. Die Schattenseite bestand jedoch in einer ästhetischen Dogmatik, die ihn unter anderem zu der verächtlichen Aussage verleitete, dass »jeder Komponist unnütz ist, der sich außerhalb der seriellen Bestrebungen stellt«.
Pierre Boulez: »Mémoriale«
... und jetzt?
Auch wenn derlei radikales Fortschrittsdenken aus der Musikgeschichte mittlerweile nahezu ganz verschwunden ist, gibt es weiterhin Zukunftsentwürfe, die manchen Menschen Angst einjagen und ihre Abwehr hervorrufen, während sie andere begeistern. Dazu gehört auch die Diskussion, ob künstliche Intelligenz das Ende intelligenter Kunst bedeutet oder ihr ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Die Beschwichtigung, dass es von der Ventiltrompete bis zum Synthesizer schon immer technische Innovationen in der Musik gegeben habe, und der Hinweis darauf, dass selbst extrem technikaffine Visionen wie der musikalische Futurismus die handgemachte Musik nicht verdrängt hätten, treffen zwar zu. Das kann aber die Sorge vieler Musikschaffender nicht entkräften, in absehbarer Zeit durch kostengünstige KI ersetzt zu werden. Doch wer hört, wie souverän, kreativ und überzeugend derzeit eine junge Generation von Komponist:innen solche Technik nutzt und dabei die eigene Unersetzlichkeit beweist, verliert jede Furcht vor der Zukunft – wenigstens was die Musik angeht.
KI-Schwerpunkt in der Elbphilharmonie
Im Rahmen des Internationalen Musikfests Hamburg 2025 widmen sich Künstler:innen dem Komponieren und Arbeiten mit Künstlicher Intelligenz