Mark Andre

Revolte in der Stille: Mark Andre im Interview

Der Komponist Mark Andre spricht über verschwindende Musik, über Raumklang und seinen abendfüllenden Zyklus »rwh 1-4«.

»Jemand hat mal über die Musik von Mark Andre geschrieben, man könne sich keine intensivere Stille vorstellen. Das stimmt!«, sagt der Dirigent Ingo Metzmacher, der schon einige Werke von Mark Andre aufgeführt hat. Im Rahmen des Internationalen Musikfests Hamburg bringen er und das Ensemble Modern im Mai 2022 nun Andres abendfüllenden Zyklus »rwh 1-4« auf die Bühne der Elbphilharmonie. Intensiv ist die Stille des deutsch-französischen Komponisten nicht zuletzt deswegen, weil sie nie leer ist. Manchmal wirkt sie wie eine Revolte, wie ein mikroskopischer Tumult.

 

Ingo Metzmacher über Mark Andre

 

Alles, was in Andres Musik nicht Stille ist, scheint er immer erst sehr gründlich zu befragen, ehe er ihm Einlass gewährt in seinen unverwechselbaren Mikrokosmos des Klangs. So intensiv, wie sich die Stille mithilfe von 200 auf sechs Chöre verteilten Sängerinnen und Sängern in »rwh 1-4« aufbäumt, so kraftvoll kündigt sich auch ihr Surround-Sound an: »Besonders an dieser Musik ist, dass sie räumlich gedacht ist«, sagt Metzmacher. »Der Klang kommt von allen Seiten, das Publikum sitzt mittendrin.«

»Ein abendfüllendes Programm in der Elbphilharmonie ist für mich etwas Einmaliges, und es bedeutet mir sehr viel!«

Mark Andre

 

Besonders an dieser Musik ist aber nicht nur ihre Gestalt, besonders ist auch ihre Entstehung. Im Interview spricht Mark Andre über Glauben und Musik sowie über technische Untersuchungen des Raumklangs. Raumklang? Ja, denn: »Jeder Raum hat seine klangliche Signatur«, sagt Mark Andre. Er ist ein Komponist, der neue klangliche Zwischenräume erfahrbar macht – ein kompromissloser Künstler, der sich peniblen Klanguntersuchungen ebenso verschreibt wie seinem festen Glauben.

 

Ensemble Modern / Ingo Metzmacher

27. Mai 2022: Die Neue-Musik-Profis vom Ensemble Modern und der Hamburger Publikumsliebling Ingo Metzmacher präsentieren Mark Andres »rwh 1-4« im Großen Saal der Elbphilharmonie.

Mark Andre im Interview

Das Ensemble Modern spielt bald in der Elbphilharmonie Ihren Zyklus »rwh 1-4«. Was hat es mit dem Titel auf sich?

»ruach« (»rwh«) ist ein aramäisches Wort und öffnet ein sehr weites Wortfeld: Es geht um Atem, Luft, Duft und Wind, aber auch um Geist – und spätestens seit der Übersetzung von Martin Luther auch um den Heiligen Geist. Dieses Wortfeld ist weiblich, das heißt, anders als bei uns wird auch der Heilige Geist weiblich gedacht. Der Titel in seinen vielen Bedeutungen schafft eine sehr schöne Schnittstelle zwischen dem ganz Irdischen und Existentiellen wie dem Atem einerseits und dem Überirdischen, Spirituellen andererseits.

 

Könnte man etwas Ähnliches über die Musik sagen? Ist sie einerseits ein rein physisches Klangereignis, das in seiner Bedeutung doch weit darüber hinausgeht und ins Göttliche weist?

Ja, auf jeden Fall. Die Vorstellung oder die Hoffnung , dass in der Musik der Heilige Geist wirken kann, ist für mich sehr zentral.  In »rwh 1-4« beziehe ich mich zum Beispiel auch auf eine Stelle im Johannes-Evangelium, wo es heißt: »Der Wind bläst, wo er will, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt.« Man weiß nicht, ob etwas überhaupt stattfindet, während es gerade passiert. Das ist etwas ganz Zerbrechliches, Leises und Zartes, aber auch extrem Intensives.

Mark Andre
Mark Andre © Martin Sigmund

Wie auch schon für andere Werke haben Sie auch für »rwh 1-4« einen bzw. mehrere Räume echografiert. Was heißt das genau?

Es geht um die Untersuchung der akustischen Signatur des Raumes. Jeder Raum hat seine eigene akustische Signatur, er ist ein Instrument. Man sendet dafür einen Ton und misst die Resonanzen. Wie ein Cello oder ein Kontrabass hat auch ein Raum einen Grundton. Alle Töne, die gesungen werden, werden davon abgeleitet.

 

Für »rwh 1-4« haben Sie mehrere Säle echografiert, unter anderem die St. Katharinen-Kirche in Hamburg und den Kuppelsaal in Hannover, einen Konzertsaal. Gibt es einen Unterschied im Hinblick auf die Weihe des Raumes?

Es geht hier um zwei Kategorien von Räumen: Um sakrale Räume und um solche wie den Kuppelsaal Hannover oder die Elbphilharmonie. Einerseits untersuche ich den Klangkörper der Räume mit digitalen Mitteln. Was die sakralen Räume anbelangt, geht es abseits dieser akustischen Untersuchung um die eventuellen, anderen Spuren dort; Spuren, die entstehen, weil über Jahrhunderte dort Menschen gebetet haben.
 

St. Katharinen in Hamburg
St. Katharinen in Hamburg © Wikimedia Commons

»rwh 1-4« besteht aus vier Teilen. In welchem Zusammenhang stehen sie, und wie lassen sie sich inhaltlich voneinander abgrenzen?

Ich hatte von Anfang an vor, einen Zyklus zu komponieren: Der erste Teil ist ein Instrumentalstück mit Elektronik – mit einer Aufstellung im Raum. Das zweite Stück wird frontal von zwei Vokalensembles aufgeführt. Das dritte, kürzeste Stück ist rein instrumental. Und dann als Viertes die Totale mit den fünf Vokalensembles und den Instrumentalensembles.

 

Welche Rolle spielt die menschliche Stimme in Ihrem Schaffen?

Sie ist ein sehr komplexes klangliches Phänomen, das mir große kompositorische Räume öffnet. Ich verwende ein sehr weites Spektrum zwischen Singen und Flüstern.

 

Und zwischen Sprache und Laut? In »rwh 4« findet man in den Chorstimmen nur die zwei Vokale »A« und »O«…

Ja, das bezieht sich auf die Offenbarung des Johannes (Kapitel 22, Vers 13), in der Jesus von Nazareth sagt: »Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.« Das scheint mir auch sehr zum Wortfeld dazuzugehören, das A und das O.

Mark Andre Mark Andre © Astrid Ackermann

»Ein Ein- und Ausatmen der Musik.«

Im Zusammenhang mit Ihrer Musik taucht immer wieder der Begriff des Verschwindens auf, auch die Stille spielt für Sie eine wichtige Rolle. Was bedeutet dieses Verschwinden für Sie?

Die Theologin Margareta Gruber hat einmal gesagt: »Die Auferstehung geschieht im Entschwinden«. Das gilt in beide Richtungen: Jesus, der wieder aufersteht, entschwindet dem Irdischen – und umgekehrt gibt es diese Auferstehung eben nur, weil er dem Irdischen entschwindet. Der Entschwundene ist auferstanden, aber auch der Auferstandene ist verschwunden. Verschwinden und auferstehen, auferstehen und verschwinden. Das finde ich sehr faszinierend und auch für die Musik einen wichtigen Gedanken: Auch hier gibt es verschiedene klangliche Parameter, die diesen Moment des Entschwindens immer wieder entstehen lassen – ein Ein- und Ausatmen der Musik.

 

Dem Entschwinden ist ja schon eingeschrieben, dass es kein lauter Vorgang ist. Warum braucht es bei »rwh 1-4« dennoch 200 Mitwirkende, um diese leise Musik herzustellen? Ist das nicht paradox?

Die Masse hat an dieser Stelle nichts Pompöses, das ist kein Mega-Event. Sie bildet einen Klangkörper, der im Prozess des Ent- oder Verschwindens präsentiert wird.

 


Interview: Tom R. Schulz

Ergänzt durch einzelne Ausschnitte aus einem Interview mit Stephan Buchberger (Ensemble Modern / Magazin Nr .55)

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