Der Sufismus gilt als eine der geheimnisvollsten und gleichzeitig liberalsten Strömungen des Islam. Die Verbindung zum Göttlichen entsteht durch die körperliche Entgrenzung – sei es durch Meditation, Gesang oder durch Tanz. Zentral ist der nach innen gerichtete, persönliche Zugang, der »Tarīqa« genannte spirituelle Pfad des Islam. Dabei spielt Musik stets eine wichtige Rolle, denn sie entfesselt bei den Ritualen der verschiedenen Strömungen des Sufismus eine ganz besondere Kraft.
In der Saison 2022/23 widmet die Elbphilharmonie dem Sufismus einen besonderen Schwerpunkt. Wir haben die Künstlerinnen und Künstler dazu befragt, was Musik für sie bedeutet und worin sie ihre spirituelle Kraft sehen.
»Musik ist für uns eine Möglichkeit, Gott näherzutreten.«
Rauf Saami, Leiter des Ensembles Saami Brothers Qawwal Party in der Tradition des ekstatischen Qawwal Bachay aus Pakistan:
»Für uns ist die Musik eine Verbindung aus Klängen, Instrumenten, Worten, Tönen und Rhythmen, die unserem Körper und Geist und unserer Seele Frieden bringt. Und uns dabei hilft, diese immer weiter zu verbessern. Musik steigert unsere körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Das ist das Ziel, das wir verfolgen. Denn erst durch diese Steigerung kann der Mensch Vollkommenheit erreichen.
Über die spirituelle Kraft der Musik wird gesagt, dass sie, wie andere Wissenschaften auch, ein Mittel ist, um das Göttliche zu verstehen. Musik ist für uns eine Möglichkeit, Gott näherzutreten und ihn besser kennenzulernen.«
»Die Musik hebt uns über religiöse und geografische Grenzen hinaus.«
Meher Angez von Naghma-e-Israfil mit Sufi-Musik der Frauen aus Nord-Pakistan:
»Musik ist nicht nur ein kulturelles Erbe, sondern findet sich auch überall in der Natur. Das Fließen des Wassers von Bächen und Flüssen beispielsweise hat eine ganz eigene Musik. Auch im Rauschen des Windes, im Zwitschern der Vögel, in den Wellen des Ozeans oder im Klopfen von Regentropfen finden sich unzählige Melodien. Musik durchdringt jede Schöpfung Gottes. Die spirituelle Kraft der Musik ist so unvergleichlich, dass in ihr die Heilung für unzählige Krankheiten zu finden ist. Und sie verleiht eine solche Leichtigkeit, dass sie uns Menschen zum Fliegen und damit näher zu Gott bringt. Sie hat die Kraft, all den Hass, den es auf dieser Welt gibt, in Liebe zu verwandeln. Sie lehrt uns den Einklang aller Lebewesen, indem sie uns über religiöse und geografische Grenzen hinaushebt. Musik hat keine Sprache, sondern ist selbst eine Sprache, die unsere Herzen und Gedanken unmittelbar erreicht.«
»Für mich ist Musik das Leben selbst.«
Hakan Talu von den Mevlevi-Derwischen »Istanbul Sema Grubu«:
»Nicht nur Musik, sondern alle Künste wie zum Beispiel Malerei, Bildhauerei, Tanz, Literatur oder sogar Architektur bilden für mich den Grundstein der geistigen Entwicklung der Menschen – und sind damit unverzichtbar! Für mich ist Musik das Leben selbst. In ihr finden sich all die großen Gefühle der Menschheit wie Freude und Trauer, Schmerzen, Verlust und Glück. Musik bedeutet daher auch, meine eigene Geschichte zu erzählen.
Spiritualität ist für mich die Kunst, mit dem Herzen und nicht mit dem Kopf zu denken und seinem Herzen zu vertrauen. Und sie findet sich auch in den versteckten Geheimnissen zwischen uns Menschen. Deswegen verbindet sich die Musik auch besonders kraftvoll mit der Spiritualität, denn sie verschafft uns einen Zugang zu unseren Herzen und hilft uns zu verstehen, wer wir wirklich sind.«
Alireza Ghorbani, Meistersänger aus Teheran:
»Wie wir wissen, ist die Musik eine der wichtigsten unter den sieben Gattungen der Kunst, also der Architektur, Bildhauerei, Malerei, Literatur und Musik, der Darstellenden Kunst und dem Film. Für mich ist sie die geeigneteste Kunstform, um die Gefühle und Sichtweisen der Menschen auszudrücken, unseren Geist und die Seele zu beflügeln und Geschichten zu erzählen.
Dass Musik eine spirituelle Kraft hat, ist unbestreitbar. Sie spielt schon immer eine sehr wichtige Rolle für alle Religionen, wird in Gottesdiensten und für die mystische Kommunikation mit dem Göttlichen verwendet.«