Video verfügbar bis 24.5.2022
Das Belcea Quartet gilt als eines der besten Streichquartette der Welt und hat in Hamburg eine große und treue Fangemeinde. Im Rahmen des digital stattfindenden Internationalen Musikfests Hamburg 2021 beschäftigt sich das Ensemble in zwei Konzerten mit Johannes Brahms’ Kammermusik für Streicher und lädt dazu herausragende Gäste ein. Nach einem Streichquar- und -quintett am ersten Abend gebührt der Folgeauftritt nun den frühen Streichsextetten. Zwei Werke, in denen der Hamburger Komponist eine nahezu orchestrale Klangwucht und -fülle erzeugt. Als hochkarätige Verstärkung mit dabei: Bratschistin Tabea Zimmermann und Cellist Jean-Guihen Queyras.
Hinweis: Alle Konzerte des Internationalen Musikfests 2021 stehen als kostenlose Streams zur Verfügung und sind nach der Erstausstrahlung für den gesamten Festivalzeitraum abrufbar.
Corina Belcea über Brahms’ Werke für Streichensemble
»Es fühlt sich nicht nach Arbeit an. Ich denke oft, wie glücklich wir sein dürfen, das zu tun, wozu wir geboren wurden.«
Corina Belcea, Primaria im Belcea Quartet
Besetzung
Belcea Quartet
Corina Belcea Violine
Axel Schacher Violine
Krzysztof Chorzelski Viola
Antoine Lederlin Violoncello
Tabea Zimmermann Viola
Jean-Guihen Queyras Violoncello
Programm
Johannes Brahms (1833–1897)
Streichsextett Nr. 1 B-Dur op. 18 (1862)
Streichsextett Nr. 2 G-Dur op. 36 (1864/65)
Dauer: ca. 70 Minuten
Die Künstler
Belcea Quartet

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Über das Quartett
Das Belcea Quartet, das 2019 sein 25-jähriges Bestehen feierte, zählt zu den renommiertesten internationalen Streichquartetten. Gegründet am Londoner Royal College of Music, vereint das Ensemble Musiker aus drei Ländern: Die Erste Geigerin Corina Belcea stammt aus Rumänien, Bratschist Krzysztof Chorzelski aus Polen, Axel Schacher und Antoine Lederlin an Geige und Cello aus Frankreich.
Ausbilden ließen sich die Musiker bei weltbekannten Kollegen, dem Amadeus und dem Alban Berg Quartett. Seither konzertieren sie in den bedeutendsten Sälen der Welt, im Concertgebouw Amsterdam ebenso wie in der New Yorker Carnegie Hall und der Londoner Wigmore Hall sowie bei den Festivals in Lausanne, Salzburg und Schwarzenberg. Auch in Hamburg ist das Belcea Quartet regelmäßig zu Gast. Im Februar 2017 gastierte es als eines der ersten Streichquartette überhaupt im Kleinen Saal der Elbphilharmonie.
Zur beeindruckenden Diskografie des Quartetts gehört eine preisgekrönte Gesamtaufnahme aller Beethoven-Quartette sowie CDs mit sämtlichen Streichquartetten von Britten, Bartók und Brahms. Für weitere Alben mit Werken von Mozart, Schubert, Fauré und Dutilleux kam das Quartett mit renommierten Musikern wie den Pianisten Piotr Anderszewski und Till Fellner zusammen, dem Cellisten Valentin Erben sowie den Sängern Ian Bostridge und Matthias Goerne – eine Tradition, an die das Quartett im aktuellen Konzertstream anknüpft.
Tabea Zimmermann – Viola

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Über Tabea Zimmermann
Tabea Zimmermann gehört zu den beliebtesten und renommiertesten Interpreten unserer Zeit. Zuhörer und musikalische Partner schätzen ihr tiefes musikalisches Verständnis und die Natürlichkeit ihres Spiels. Für ihre künstlerischen Verdienste wurde die Bratscherin vielfach ausgezeichnet, zuletzt 2020 mit dem prestigeträchtigen Ernst von Siemens Musikpreis.
Als Solistin arbeitet sie regelmäßig mit den weltweit bedeutendsten Orchestern. Residenzen gestaltete sie in den vergangenen Spielzeiten etwa beim Royal Concertgebouw Orchestra und bei den Berliner Philharmonikern, in Weimar, Luxemburg und beim Hamburger Ensemble Resonanz, mit dem sie weiterhin eng zusammenarbeitet.
Tabea Zimmermann hat das Interesse vieler zeitgenössischer Komponisten für die Bratsche geweckt und zahlreiche neue Werke uraufgeführt. Ihre Diskografie umfasst mehr als 50 preisgekrönte CDs, darunter eine Gesamteinspielung aller Bratschenwerke von Paul Hindemith sowie Werke von Johann Sebastian Bach und Max Reger. Ein Höhepunkt ihrer intensiven Auseinandersetzung mit Ludwig van Beethoven waren Einspielungen auf der Bratsche des Komponisten.
Tabea Zimmermann lebt in Berlin und hat drei fast erwachsene Kinder. Seit 2002 lehrt sie als Professorin an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler«.
Jean-Guihen Queyras – Violoncello

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Über Jean-Guihen Queyras
»Er hat das Cello neu erfunden«, schreibt die Zeitschrift Diapason über Jean-Guihen Queyras, der zu den vielfältigsten und außergewöhnlichsten Cellisten weltweit gehört. Mit derselben Begeisterung widmet sich Queyras sowohl alter als auch zeitgenössischer Musik. So konzertiert er mit Spitzenensembles für historische Aufführungspraxis wie dem Freiburger Barockorchester und bringt zugleich regelmäßig neue Werke von Komponisten wie Bruno Mantovani und Thomas Larcher zur Uraufführung.
Jean-Guihen Queyras gastiert auf den bedeutendsten internationalen Bühnen. Auch in Hamburg ist er ein gern gesehener Gast: Im Großen Saal der Elbphilharmonie führte er etwa Bachs Cellosuiten in einer Choreografie von Anne Teresa De Keersmaeker auf und gestaltete mit Emmanuel Pahud und Eric Le Sage einen Abend in der Laeiszhalle. Die Kammermusik liegt ihm ohnehin sehr am Herzen; so ist er Gründungsmitglied des Arcanto Quartetts und bildet ein festes Trio mit Isabelle Faust und Alexander Melnikov.
Seine eindrucksvolle Diskografie versammelt unter anderem Aufnahmen der Cellokonzerte von Edward Elgar, Antonín Dvořák, Robert Schumann, Philippe Schoeller und Gilbert Amy. Jean-Guihen Queyras unterrichtet als Professor an der Musikhochschule Freiburg und ist künstlerischer Leiter des Festivals Rencontres Musicales de Haute-Provence im südfranzösischen Forcalquier.
Serenadenklänge gegen den Beethoven-Komplex :Zum Programm: Die Streichsextette von Johannes Brahms
Streichquartette gibt es in der Kammermusik wie Sand am Meer. Trios und Quintette sind schon weniger zahlreich, ernstzunehmende Duos und Sextette geradezu selten. Ein Grund könnte darin liegen, dass die Kombination von Melodie und begleitendem Dreiklang ganz natürlich zum Quartett führt. Andere Besetzungen sind gerade wegen der Abweichung vom Ideal der Vierstimmigkeit weniger beliebt: Die Stimmen, die dem Duo fehlen, erscheinen beim Sextett überzählig, bloß dekorativ. Daher sind Duos von Melodieinstrumenten oft nur Etüden, etwa für Lehrer und Schüler, während dem Sextett und anderen großen Ensembles der Ruf oberflächlicher Serenadenmusik anhaftet.
Nun kann man zwar die beiden Streichsextette von Johannes Brahms nicht gerade als ästhetische Leichtgewichte bezeichnen, doch Bezüge zu den unterhaltsamen Nachtmusiken des 18. Jahrhunderts lassen sie durchaus erkennen – etwa volkstümlich-tänzerische Elemente oder, im ersten Sextett, einen vergleichsweise schlichten Tonsatz, der Melodie und Begleitung deutlich trennt.
Brahms hatte nach eigener Aussage schon mehr als 20 Streichquartette begonnen und wieder verworfen, bevor er als 40-Jähriger seine beiden Quartette op. 51 veröffentlichte. Grund für das lange Zögern war seine fast schon krankhaft selbstkritische Haltung, die Verunsicherung angesichts der kaum zu übertreffenden Leistungen Beethovens. Dagegen gelang ihm mit dem ersten Streichsextett von 1859/60 schon früh und auf Anhieb ein großer Wurf, vermutlich weil die Besetzung nicht durch eine einschüchternde Tradition belastet war. An ein Sextett konnte sich ein junger Komponist viel unbefangener heranwagen.

Walzer, Folia und Musette :Das erste Sextett op. 18
Formal orientierte sich Brahms in beiden Sextetten am klassischen viersätzigen Modell. So ist der erste Satz jeweils in der traditionellen Sonatenform gestaltet – im ersten Sextett allerdings mit drei Themen anstelle der üblichen zwei. Das ausdrucksvolle, sanft strömende Hauptthema erklingt zunächst im ersten Cello, bevor die erste Violine übernimmt. Von mehreren Instrumenten wird bald darauf eine walzerartige Melodie vorgetragen – allerdings in der »falschen« Tonart A-Dur. Das dritte Thema erinnert an einen Ländler, einen Volkstanz.
Den zweiten Satz komponierte Brahms in seiner Lieblingsform, nämlich als Variationenfolge. Grundlage der sechs Variationen ist allerdings nicht die Anfangsmelodie, sondern das ihr zugrunde liegende Harmonieschema. In den ersten drei Variationen steigert sich die Lebhaftigkeit der Bewegung, gipfelnd in den auf- und abwogenden Bassläufen der dritten. Nr. 5 ist nach Art einer Musette gestaltet – sie erinnert an Dudelsack-Musik.
Im folgenden Scherzo liegt der scherzhafte Charakter nicht, wie sonst so häufig, im Rhythmischen, sondern in der Harmonik: Nachdem Brahms durch stetiges Pendeln die Grundtonart fest etabliert hat, überrascht er mit völlig unerwarteten Wendungen. Einen typischen Serenadenton schlägt das Finale an: Seine graziösen Verzierungen und die geschlossenen, regelmäßig gegliederten Themen verweisen auf die Zeit des Rokoko. Verpackt als Rondo-Form, wandelt es den wiederkehrenden Refrain bei jeder Wiederholung geistvoll ab.
Befreiung von der Liebe :Das zweite Sextett op. 36
Brahms schrieb häufig in rascher Folge zwei Werke gleicher Gattung: die Serenaden op. 11 und op. 16, die beiden Streichquartette op. 51 und die Sinfonie-Paare Nr. 1/2 und Nr. 3/4 etwa. »Und immer«, so der Brahms-Biograf Hans Gál, »ist das nachfolgende Werk noch reicher, seine Technik noch sicherer, seine Form noch freier und großzügiger.«
Das gilt nach Meinung vieler Musikkenner auch für das zweite, 1864/65 entstandene Streichsextett. Im ersten hatte Brahms an vielen Stellen noch mehrere Instrumente in Oktaven oder im Einklang spielen lassen, was geradezu orchestrale Wirkungen ergab. Im zweiten Sextett reduzierte er solche Effekte; dafür spielt Kontrapunktik – die komplexe, gegenläufige Stimmführung nach barocker Tradition – eine wichtige Rolle: So wird das Hauptthema des ersten Satzes kunstvoll verarbeitet, zum Beispiel als vierstimmiger Kanon. Solche Gelehrsamkeit blieb allerdings nicht folgenlos: Während das erste Sextett Brahms den ersten großen Erfolg seiner Laufbahn bescherte, konnte sich das zweite nur allmählich im Konzertleben durchsetzen.
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Übrigens ...
Bemerkenswert am ersten Satz ist auch die an das schwungvolle Seitenthema anschließende Passage: Erste Violine und erste Viola spielen hier gleich mehrfach die Töne A-G-A-H-E, die den Namen »Agathe« bilden (wenn auch ohne den tonlosen Buchstaben T). »Hier habe ich mich von meiner Göttinger Liebe freigemacht!«, erklärte Brahms in einem Brief; er bezog sich auf die Auflösung seiner Verlobung mit der Göttinger Professorentochter Agathe von Siebold im Jahr 1858.
Nach dem tänzerischen zweiten folgt ein langsamer Satz, eine Variationenfolge von ganz ungewöhnlicher Art: Das Thema wird mit so selbstständigen Gegenstimmen eingeführt, dass es sich dem Hörer kaum als Melodie mitteilt. Und von seiner Gestalt führen die folgenden Abschnitte schließlich so weit weg, dass der Kritiker und Brahms-Freund Eduard Hanslick von »Variationen über kein Thema« sprach.
Im Finale klingen sowohl Motive des Kopfsatzes als auch des Scherzos an – so rundet Brahms das Sextett zum Zyklus.
Text: Jürgen Ostmann
Gefördert durch die Kühne-Stiftung, die Behörde für Kultur und Medien Hamburg, die Stiftung Elbphilharmonie und den Förderkreis Internationales Musikfest Hamburg