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Wanderer zwischen den Welten

Max Richter elektrisiert Klassikliebhaber und Pop-Fans gleichermaßen. Mit seiner Partnerin Yulia Mahr gestaltet er ein Reflektor-Wochenende in der Elbphilharmonie.

Als Kind wollte Max Richter Astronaut werden. »Doch dann fand ich heraus, dass man dafür entweder Amerikaner oder Russe sein musste.« Also entschied sich der Brite, der 1966 im niedersächsischen Hameln geboren wurde, noch einmal um – nur um einige Jahre später als Komponist doch noch in Welten aufzubrechen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: ins Sydney Opera House und in das Berliner Berghain, auf die große Kinoleinwand, und ja, auch in die Kölner Lanxess Arena zum Finale von Heidi Klums Castingshow »Germany’s next Topmodel«.

Reflektor Max Richter & Yulia Mahr

Vom 7. bis 10. Oktober 2021 gestaltete Max Richter das Programm der Elbphilharmonie.

»Ein Weg, um Menschen anzusprechen«

Für Richter ist all das kein Widerspruch: »Musik ist für mich vor allem ein Weg, um Menschen anzusprechen. Es geht darum, ein Gespräch zu führen.« Diese Offenheit – nicht nur geografisch, sondern vor allem auch für verschiedene Stile, Genres und Einflüsse – hat ihn zum derzeit wohl populärsten Vertreter einer neuen Form klassisch anmutender Musik gemacht, für die es noch nicht einmal einen Namen gibt. Und auch ins All hat es Richter inzwischen geschafft: 2019 flog seine Filmmusik im Weltraum-Blockbuster »Ad Astra – Zu den Sternen« zusammen mit Brad Pitt bis zum Neptun.

Max Richter
Max Richter © Philipp Seliger

Avantgarde vom Milchmann

Seinen Weg zur Musik fand Richter ganz automatisch, wie er selbst sagt. »Sie war immer da. Schon als Kleinkind hatte ich ständig Melodien im Kopf, und ich wusste gar nicht, dass es anderen Leuten nicht auch so ging. Ich habe einfach immer schon komponiert.« Einen entscheidenden Anteil an seiner Entwicklung hatte dann der Milchmann seines Wohnortes Bedford in der Nähe Londons, wie Richter einmal erzählte: »Als ich zwölf, dreizehn war übte ich fleißig Klavier, und eines Tages hat mich der Milchmann gehört. Er war ein großer Fan von zeitgenössischer Musik, hatte eine enorme Plattensammlung und machte mich gewissermaßen zu seinem Projekt. Fortan lieferte er morgen zusammen mit der Milch auch experimentelle Platten aus.« So hörte der junge Max zum ersten Mal von amerikanischen Minimalisten wie Terry Riley und Philip Glass – und war sofort verzaubert von den hypnotischen Klängen und der rhythmischen Kraft dieser Musik, deren wesentliches Strukturelement die Wiederholung ist.

Philip Glass spielt »Mad Rush«

Nach seinem Studium an der Royal Academy of Music und bei dem Avantgarde-Komponisten Luciano Berio in Florenz gründete Richter das aus sechs Pianisten bestehende Ensemble Piano Circus, das sich genau dieser Art von Musik widmete, Werke von Komponisten wie Steve Reich, Arvo Pärt und Brian Eno spielte. Die Auseinandersetzung mit diesen Komponisten hatte dann wiederum ganz unmittelbaren Einfluss auf Richters eigene Kunst: »Durch ihr Vorbild habe auch ich meine musikalische Sprache vereinfacht.«

Ausdrucksstark und direkt

Genau dies führte jedoch dazu, dass gerade die Klassik-Branche Richter anfangs mit Nichtbeachtung strafte. Zu simpel, zu plakativ sei seine Kunst, um vor dem Neue-Musik-Establishment zu bestehen. Viele seiner frühen Kompositionen veröffentlichte Richter daher direkt auf CD – die eigentlichen Uraufführungen im Konzert erfolgten oft erst viele Jahre später. »Damals gab es einfach eine gewisse Orthodoxie in der Frage, was gute Musik ist: Zweite Wiener Schule, Modernismus, Boulez. Der Anspruch war, dass eine Komposition immer auch eine Art Manifest ist. Ich hingegen wollte Geschichten erzählen, Gefühle transportieren. Mir war wichtig, eine Sprache zu entwickeln, die gut verständlich, ausdrucksstark und direkt ist.« Und wenn Max Richter heute genau deswegen auch von den Klassik-Tempeln auf der ganzen Welt umworben wird, dürfte das nachträglich für Genugtuung sorgen.

Es war unter anderem die Filmmusik zu Ari Folmans Oscar-nominiertem Animationsfilm »Waltz with Bashir« (2008), die Richter viel künstlerische Anerkennung einbrachte. Zu einem regelrechten Komponistenstar wurde er dann 2012 mit seiner ersten Einspielung für das Traditionslabel Deutsche Grammophon: Auf »Recomposed by Max Richter: Vivaldi – The Four Seasons« präsentierte er seine Neufassung von Antonio Vivaldis berühmten »Vier Jahreszeiten« – einem Stück, das Richters Meinung nach »seinen Zauber verloren« habe.

Recomposed by Max Richter: Vivaldi – The Four Seasons

Auch wenn das Original deutlich erkennbar bleibt, ließ Richter keinen Ton an seinem angestaubten Platz und schuf mit rein orchestralen Mitteln einen Klang, der an elektronische Musik erinnert. Wohl auch deshalb wurde die Aufnahme, die zusammen mit dem Geiger Daniel Hope und dem Konzerthausorchester Berlin entstand, ein großer Erfolg und machte Richter vor allem bei einem jungen und wenig Klassik-affinen Publikum bekannt. Auf Spotify wurde das Album bisher rund 40 Millionen Mal angeklickt.

Falsche Etiketten

Für diese Herangehensweise an die Musik haben manche Musikjournalisten Richter bald das Etikett »Neoklassik« verpasst – einen Begriff, den er jedoch ablehnt. Er selbst bezeichnet sich stattdessen halbironisch als »Post-Klassiker«. Das passt ja auch viel besser, denn das klassische Komponieren hat Richter längst hinter sich gelassen. »Ich hatte eine sehr klassische musikalische Ausbildung, interessierte mich aber ungeheuer für das, was Anfang der Achtziger um mich herum in Großbritannien lief – und das waren Electronica und Punk. Die ersten Gigs, die ich besuchte, waren The Clash und Kraftwerk. Mir gefiel die ursprüngliche Energie des Punk, aber gleichzeitig studierte ich ernsthaft klassische Musik und baute in meinem Zimmer mit einem Lötkolben analoge Synthesizer zusammen. Für mich flossen all diese Dinge schon immer zusammen.«

Max Richter in der Elbphilharmonie
Max Richter in der Elbphilharmonie © Daniel Dittus

Kein Wunder, dass für Richter auch die Trennung zwischen akustischen und elektronischen Instrumenten keine Rolle spielt: »Ich sehe in der Elektronik eher eine Fortführung, eine Erweiterung der verfügbaren Klangpalette. Insofern wäre es für mich nur logisch, wenn auch mehr Elektronik Eingang ins Orchester fände.«

Die Spotify Playlist zum Reflektor Max Richter & Yulia Mahr

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Die Nützlichkeit von Musik

Neben allen klanglichen Aspekten ist es für Richter aber auch essenziell, seiner Kunst einen konkreten Sinn zu verleihen: »Ich finde es spannend, über die Nützlichkeit von Musik nachzudenken. In der zeitgenössischen Musik ist so ein Ansatz verpönt, aber im Barock oder in der Klassik ging es immer auch um den Gebrauchswert von Musik. Mozart hat Werke für jede erdenkliche menschliche Aktivität geschrieben, und auch ich schreibe selten Musik einfach nur so.« So verfolgt etwa sein 2015 entstandenes Projekt »Sleep« einen ganz konkreten Nutzen: Es soll beim Einschlafen helfen. Das achteinhalbstündige Hörerlebnis besteht aus insgesamt 31 Kompositionen, die alle auf demselben thematischen Material basieren – wie eine moderne Version von Bachs »Goldberg-Variationen«, die mit ihrer langsamen und kontemplativen Musik explizit zum Träumen einlädt. Bei Aufführungen in Berlin, Paris und Los Angeles standen denn auch massenhaft Betten und Kissen für das Publikum bereit.

Max Richter: Sleep

Zum Auftakt des Reflektors sendete Max Richter »Sleep« in einem achteinhalbstündigen Livestream aus der Elbphilharmonie.

»›Sleep‹ ist ein achtstündiges Schlaflied. Eine Einladung, zur Ruhe zu kommen.«

Max Richter »Sleep« Max Richter »Sleep« © Daniel Dittus
Max Richter »Sleep« Max Richter »Sleep« © Daniel Dittus
Max Richter »Sleep« Max Richter »Sleep« © Daniel Dittus
Livestream »Sleep« Livestream »Sleep« © Daniel Dittus
Max Richter Max Richter © Daniel Dittus

Moralisch ambitioniert

Richters Anspruch geht jedoch noch über den praktischen Nutzen seiner Musik hinaus: »Musik soll weniger eine technische Übung sein als vielmehr ein Transportmittel für Inhalt. In meinem Werk geht es daher immer ›um‹ etwas, denn ohne einen klaren sozialen Zweck ist Kreativarbeit nicht sonderlich zugkräftig.« Besonders offensichtlich tritt dies in seiner jüngsten Komposition »Voices« zu Tage, in der manche Kritiker schon sein Opus magnum sehen. Nichts Geringeres als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 hat sich Richter darin zum Thema genommen, deren Text ein Sprecher zu einer getragenen, rund einstündigen Musik vorträgt. »Ich habe mich hier für eine sehr lesbare Formel entschieden, bei welcher der Text alles überstrahlt. Die Musik ist minimal und reduziert, das ermöglicht dem Zuhörer, über die Worte nachzudenken, die er gerade gehört hat.« Das Ergebnis ist eine gleichermaßen zugängliche wie moralisch ambitionierte Programmmusik.

Max Richter: Voices

»Die Musik ist minimal und reduziert, das ermöglicht dem Zuhörer, über die Worte nachzudenken, die er gerade gehört hat.«

Eine Landkarte durchs musikalische Spektrum :Max Richter & Yulia Mahr in der Elbphilharmonie

Mit »The Four Seasons«, »Sleep« (als nächtlichem Livestream) und der deutschen Erstaufführung von »Voices« erklingen die drei Hauptwerke Max Richters nun auch bei seinem Reflektor im Oktober in der Elbphilharmonie. Das Programm dafür hat Richter gemeinsam mit seiner künstlerischen und privaten Partnerin, der Filmemacherin und Videokünstlerin Yulia Mahr, kuratiert. Die beiden scharen zahlreiche gleichgesinnte Musikerinnen und Musiker um sich: »Wir sehen das Reflektor-Programm als eine Art klangliche Landkarte dessen, was derzeit im gesamten musikalischen Spektrum interessant und lebendig ist. Die Künstler, die wir eingeladen haben, sind sehr vielfältig, von Klassik bis Jazz, Live-Elektronik und vieles mehr. In dieser Vielfalt sehen wir aber auch ein gemeinsames Prinzip, nämlich die künstlerische Freiheit des Ausdrucks und eine experimentelle Ästhetik, die ganz unabhängig vom jeweiligen Genre ist.«

Max Richter in der Elbphilharmonie
Max Richter in der Elbphilharmonie © Daniel Dittus

Wie üblich beim Reflektor werden auch Richter und Mahr die ganze Elbphilharmonie für ihr Programm nutzen und das Haus von den Kaistudios bis zu den beiden Sälen bespielen: »Dieses Gebäude ist eine außergewöhnliche Leistung, und dort aufzutreten ist ein unvergessliches Erlebnis. In gewisser Weise stellt die Elbphilharmonie den Höhepunkt einer Reihe von Aufführungs- und Musiktraditionen dar, und wir freuen uns darauf, das Potenzial für vielfältige und neue Werke in diesen Räumen zu erkunden.«

Text: Simon Chlosta, Stand: 16.9.2021

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