Es war eine faustdicke Überraschung, als 2018 die Mailänder Scala endlich verkünden konnte: György Kurtág hat seine erste Oper komponiert! Nicht wenige in der Neue-Musik-Szene hatten daran nämlich kaum mehr geglaubt. Über insgesamt acht Jahre hatte sich die Arbeit daran hingezogen. Und selbst einen für die Salzburger Festspiele anberaumten Uraufführungstermin ließ Kurtág platzen. Doch nun war es soweit. Der ungarische Altmeister überreichte seine knapp 400-seitige Partitur dem Premieren-Dirigenten Markus Stenz. Und am 15. November hob sich in der legendären Scala der Vorhang für Kurtágs Beckett-Oper »Fin de Partie«, die nicht nur bei der internationalen Kritikerschar, sondern auch beim Publikum ein voller Erfolg wurde. Im Oktober 2023 kommt das monumentale Werk auch in der Elbphilharmonie zur Aufführung.
Denn wieder war Kurtág diese Balance aus gewagt lodernder Expressivität und vertrauten Traditionsbezügen à la Claudio Monteverdi gelungen, mit der er seit Jahren und Jahrzehnten die breite Hörerschaft genauso anspricht wie die Insider der zeitgenössischen Musik.
György Kurtág im Fokus :Saison 2023/24
»Meisters der Miniaturen« - drei Konzerte widmen sich der faszinierenden Musik des legendären Komponisten.
Durchbruch eines Spätstarters
»92 Jahre: Ein stolzes Alter für ein Operndebüt«
Bereits 92 Jahre alt war Kurtág, als er mit »Fin de Partie« die Musiktheaterbühne eroberte. Ein stolzes Alter für einen Operndebütanten. Aber der 1926 in einem kleinen rumänischen Städtchen geborene und aus einer ungarischen Familie stammende Komponist galt in der Szene im Grunde schon immer als eine Art Spätstarter. Erst mit 55 Jahren feierte er doch tatsächlich seinen internationalen Durchbruch – 1981 mit der Pariser Feuertaufe seines Vokalwerks »Botschaften des verstorbenen Fräuleins R. V. Troussova«. Und wie später die französische Neue-Musik-Ikone Pierre Boulez einmal gestand, hatte er damals bei der Durchsicht der Noten Kurtág für einen talentierten Nachwuchskomponisten gehalten: »Ich kannte nicht einmal seinen Namen!«
Nicht nur für Boulez sollte sich das mit einem Schlag ändern. Kurtágs Werke wurden seitdem weltweit von den namhaftesten Interpreten gespielt, von Claudio Abbado bis Pierre-Laurent Aimard. Im Ranking der meistgespielten Kompositionen jüngeren Datums rangiert etwa Kurtágs »Hommage à Robert Schumann« für Klarinette, Viola und Klavier ganz weit oben. Und neben den hochdotierten Nobelmusikpreisen wie dem »Grawemeyer Award« und dem »Ernst von Siemens Musikpreis« bekam er 2009 sogar den »Goldenen Löwen der Biennale di Venezia« für sein Lebenswerk verliehen. Kaum ein zweiter Komponist seiner Generation erfreut sich damit einer solchen Resonanz, Anerkennung und vor allem Bewunderung wie Kurtág.
»Meine Muttersprache ist Bartók, und Bartóks Muttersprache war Beethoven.«
György Kurtág
Fernab von Moden und Schubladen
Dabei passt das Scheinwerferlicht so gar nicht zu ihm und seinem Naturell. Abseits des Konzertbetriebs muss man ihn eher zu den stilleren Stars der Neuen Musik zählen, die auch die Kunst des beredten Schweigens meisterlich beherrschen. All die musikideologischen Grabenkämpfe, an denen sich etwa auch sein alter Freund und Ex-Kommilitone György Ligeti ab den 1960er Jahren lustvoll und lautstark beteiligte, waren daher nie Kurtágs Sache.
»Die musikideologischen Grabenkämpfe waren nie Kurtágs Sache«
Stattdessen widmet er sich bis heute auch in der Abgeschiedenheit der französischen Provinz einer Klangsprache, die sich fernab aller musikalischer Moden und Schubladen zu einer der eigenwilligsten in der Musik der Moderne entwickelt hat. Da stehen unruhig flackernde Vokalzyklen neben den Klavier-Arrangements sanfter Bach-Choräle. Für das Ur-Balkan-Instrument namens Cymbal hat Kurtág genauso Stücke geschrieben wie für klassisches Streichquartett. Und unter seinen Hunderten von Miniaturen, die er seit 1973 für Klavier komponiert und unter dem Titel »Játékok« (Spiele) veröffentlicht hat, finden sich musikalische Ehrungen und Verbeugungen auch vor dem Teufelsgeiger Paganini, dem deutschen Avantgarde-Guru Stockhausen sowie vor Nancy »My Baby Shot Me Down« Sinatra!
Die reiche, über siebenhundertjährige Musikgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart bildet für Kurtág somit einen inspirierenden Fundus. Wobei speziell zwei Komponisten des 20. Jahrhunderts für ihn geradezu wegweisend wurden. Zum einen war es die von der osteuropäischen Folklore geprägte Musik seines Landsmannes Béla Bartók, die ihn schon früh faszinierte. Und auch wenn Kurtágs Wunsch nicht in Erfüllung gehen sollte, 1945 am Budapester Konservatorium bei Bartók zu studieren, versteht er sich doch als dessen künstlerischer Ziehsohn.
Minimum an Tönen, Maximum an Ausdruck
Zur zweiten Lichtgestalt für Kurtág sollte sodann der Arnold Schönberg-Schüler Anton Webern werden. Weberns Schaffen hatte er Ende der 1950er Jahre in Paris kennengelernt, wo er zwar bei Olivier Messiaen und Darius Milhaud studierte. Doch Kurtág fiel plötzlich in eine künstlerische Krise, aus der ihn die Psychologin und Kunsttherapeutin Marianne Stein befreite. Sie riet ihm, quasi bei Null anzufangen und mit radikal reduzierten Ton-Gebilden zu arbeiten, wie sie typisch für die Musik Anton Weberns waren.
Als ein »Minimum an Tönen und ein Maximum an Ausdruck« hat Wolfgang Sandner einmal Kurtágs Klanghandschrift beschrieben, an der er seit seinem Opus 1, einem 1959 komponierten Streichquartett unermüdlich und bisweilen viele Jahre lang feilt, um dem nahezukommen, was er »Wahrheit« nennt. Und dann entstehen Meisterwerke, bei denen jeder Ton punktgenau an der richtigen Stelle steht.
»Sie riet ihm, quasi bei Null anzufangen und mit radikal reduzierten Ton-Gebilden zu arbeiten«
Manchmal erzählen diese in kürzester Zeit burlesk klingende Geschichten, wie in den gerade einmal eine halbe Minute dauernden Klavierstücken »Hampeln-Strampeln« oder »Mit den Handflächen«. Oder die ungewöhnliche Besetzung Sopran & Violine erkundet in den »Kafka-Fragmenten« mit bisweilen nur ein, zwei, drei kleinen Walzer-Schritten die doppelbödige (Gedanken-)Welt des Prager Schriftstellers. Aus rund 40 Miniaturen besteht diese musikalische Kafka-Lektüre.
Und wenngleich so manche dieser Stückchen wieder einmal nur wenige Sekunden dauern, trifft auf Kurtágs Musik einmal mehr das zu, was schon Arnold Schönberg einst über die Musik Anton Weberns gesagt hat: Er könne mit nur einer einzigen Geste einen ganzen Roman und durch ein einziges Aufatmen das pure Glück ausdrücken. Doch eines kann Kurtág zudem auch noch: Er kann mit nur wenigen Noten einen herrlichen Witz erzählen.
Autor: Guido Fischer, Stand: 27.4.2020