Der Klang der Gegenwart im Großen Saal: Beim Festival »Elbphilharmonie Visions« steht ausschließlich zeitgenössische Musik auf dem Programm. Das ist nicht nur musikalisch spannend, sondern bietet auch die großartige Chance, den Komponist:innen Fragen zu ihren Werken und zum Komponieren selbst zu stellen. Wie funktioniert Komponieren überhaupt? Haben sie vorher schon eine konkrete Vorstellung von dem Werk oder entsteht es erst beim Schreiben? Was für eine Rolle spielt die Umgebung? Und was wünschen sie sich für ihre Musik?
Davon berichten die Komponist:innen des Festivals in Kurzinterviews – in dieser Ausgabe mit der in New York City lebenden Komponistin Dalit Warshaw, deren großes Orchesterwerk »Responses« beim Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters unter Alan Gilbert auf dem Programm steht.
Was inspiriert Sie als Komponistin? Welche Rolle spielt das Außermusikalische?
Meine Musik hat häufig eine programmatische oder literarische Grundlage, sei es, dass sie eine tatsächliche Geschichte wiedergibt oder als Kommentar zu einem nicht-musikalischen Thema bzw. bestimmten Werk eines früheren Komponisten dient. Als Komponistin und Interpretin sehe ich meine Rolle oft als Vermittlerin, die Persönlichkeiten, Intentionen und anwendbare musikalische Sprachen kanalisiert – ob eine allgemeine Anspielung auf einen Stil oder die wörtliche Auseinandersetzung mit einem Zitat. Der Dialog und die Versöhnung zwischen den Sprachen der Gegenwart und der Vergangenheit ist in den letzten Jahren zu einem immer wichtigeren Element meines kompositorischen Stils geworden.
Ist Ihre innerliche Vorstellung von einem Werk schon ausgeprägt, ehe Sie sich daran machen, es zu komponieren?
Immer. Die Vision entwickelt sich oft schon lange, bevor das Stück überhaupt in Auftrag gegeben wird oder die Instrumentierung feststeht. Ich habe eine lange Liste von Werken, die noch geschrieben werden müssen, und die konzeptionellen Voraussetzungen sind alle genau beschrieben. Diese werden nach und nach ausgebaut, wobei sich im Laufe der Zeit Schichten entwickeln, von den größten bis hin zu den kleinsten Details. Der eigentliche Kompositionsprozess hingegen ist hochkonzentriert und oft schnell (um nicht zu sagen, ziemlich freudig), da die vorkompositorischen Komponenten schon lange vorhanden sind und ich mich zu diesem Zeitpunkt von den Bedürfnissen der Musik leiten lasse.
Wie würden Sie den Klang unserer Zeit beschreiben?
Bei der Beantwortung dieser Frage kann man leicht in die Falle tappen, entweder zu verallgemeinern oder eine Abhandlung zu schreiben! Als amerikanische Komponistin, die in New York lebt, glaube ich, dass wir Kreativen uns gerade in einer Zeit besonderer Freiheit befinden, mit einem jubelnd verlegenem Reichtum, in der alle Sprachen und Medien (einschließlich der sich ständig weiterentwickelnden Innovationen im Bereich der elektronischen Musik) und die Möglichkeiten, sie miteinander zu verbinden und in Einklang zu bringen, nicht nur akzeptabel, sondern auch begehrt sind. Es gibt auch ein erneuertes Interesse an der Verlockung farblicher Möglichkeiten, einem virtuellen Traum für jeden orchestralen Komponisten. Damit einhergehend scheint es ein gesteigertes Interesse zu geben, Themen jenseits der Musik anzusprechen, wie kulturelle Identität und vorherrschende globale Belange, mehr als in der Vergangenheit.
Was braucht zeitgenössische Musik, um die Liebe des Publikums zu gewinnen?
Ich bin nicht der Meinung, dass Künstler:innen das Bedürfnis haben sollten, sich bei ihrem Zielpublikum anzubiedern. »Gefallen« ist ein vorübergehendes, zeit- und fallspezifisches Phänomen, und was letztlich überwiegt, ist die Aufrichtigkeit der Vision, die über Trend oder Stil hinausgeht. Vielleicht ist es ein stärkeres (und realistischeres) Ziel, dafür zu sorgen, dass die Reaktion, wie auch immer sie ausfallen mag, von einem emotionalen Ort ausgeht und idealerweise zum Nachdenken, zu Fragen oder zur Enthüllung anregt und nicht von Gleichgültigkeit geprägt ist.
Was möchten Sie dem Publikum über Ihr Werk mit auf den Weg ins Konzert geben?
Ich begann schon in einem ungewöhnlich jungen Alter, für Orchester zu komponieren, und entwickelte mein Handwerk zunächst durch direkte Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit vielen Ensembles und Dirigenten, anstatt ein herkömmliches Kompositionsstudium zu absolvieren. Nachdem ich jahrelang andere Medien erforscht hatte (einschließlich des Theremins, das ich auch spiele), stellte das Schreiben von »Responses« für mich einen tiefgreifenden Wendepunkt dar, nicht zuletzt, weil die ursprüngliche Form für Solo-Klavier war, mein Mutter-Instrument. Diese Rückkehr trieb mich zu Brahms, dessen Musik – wie ich oft empfunden habe – die paradoxe Fähigkeit besitzt, so lebhafte und tiefe Gefühle auszudrücken, während sie gleichzeitig in einem anmutig verzierten Bilderrahmen gebändigt ist. Ich versuchte, mögliche unausgesprochene emotionale Ironien zu ergründen und fragte mich, welche Ecken und Kanten vorhanden sein könnten, wenn ich mich mit diesem Geist unterhielte oder ihn sogar provozieren würde.
- Elbphilharmonie Großer Saal
NDR Elbphilharmonie Orchester / Lawrence Power / Alan Gilbert
Visions 7: Dalit Warshaw / Magnus Lindberg / Dai Fujikura
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