Text: Tom R. Schulz
Marcilly-le-Châtel ist ein Ort von der Sorte, in dem der letzte Lebensmittelladen schon vor Ewigkeiten dicht gemacht hat. Kaum ein Reisender verirrt sich in dieses französische Dorf an den nördlichen Ausläufern des Massif Central, knapp 100 Kilometer westlich von Lyon, am Rande der Auvergne. Hier in Marcilly-le-Châtel, im Souterrain eines grün eingewachsenen Hauses abseits der Hauptstraße, lag einige Zeit trocken und sicher aufbewahrt etwas sehr Kostbares und Exotisches; wie lange genau, das weiß Jean-Pierre Chazal nicht mehr. Vielleicht zwei, drei Jahre? Das Haus gehört seinem Vater, er selbst lebt in Paris.
An einem besonders heißen Tag im August 2016 führt Chazal drei Männer aus Deutschland ins Souterrain hinab. Sie haben erfahren, was da so ungenutzt im Haus seines Vaters lagert, und wollen es ihm eventuell abkaufen. Die Männer sind auf der Suche nach einem Gamelan für die Elbphilharmonie Hamburg.
Gamelan in der Elbphilharmonie
In der Elbphilharmonie finden regelmäßig sowohl Konzerte als auch Workshops mit dem Gamelan statt.
Kostbare Bronze-Instrumente aus Java
Gamelan ist der Name für ein Ensemble von Musikinstrumenten, das im Wesentlichen aus Gongs und Metallophonen besteht – also aus selbstklingenden Instrumenten mit einer bestimmten Tonhöhe. Sie müssen nicht virtuos gespielt werden wie eine Geige oder ein Klavier; es genügt, sie anzuschlagen, dann gerät das Material, aus dem sie gebaut sind, in Schwingung und gibt einen spezifischen Klang ab. Im Falle des Gamelans handelt es sich um Bronze. Das Wort Gamelan steht sowohl für das vielteilige Instrument als auch für seine Spieler als auch für die – im besten Wortsinn – ganz eigenartige Musik, die sie gemeinsam hervorbringen: einen für unsere Ohren so exotisch wie hypnotisch wirkenden, warmen Klangfluss, in dem komplexe rhythmische Muster improvisierend umspielt werden.
In Ostasien ist das Gamelan seit Jahrhunderten in Gebrauch, bei religiösen Anlässen ebenso wie bei familiären Festen, als Begleitung zum Tanz, beim Puppentheater oder bei Schattenspielen. Verbreitet ist es hauptsächlich auf den beiden zu Indonesien gehörenden Inseln Java und Bali. Das balinesische Gamelan ist schnell, das javanische deutlich gemächlicher. Das macht es besser handhabbar für Laien – etwa aus dem fernen Hamburg, die meist erst im Erwachsenenalter auf die Idee kommen, dass Gamelan spielen ihnen Freude bereiten könnte.
»Das Gamelan hat ein Problem …«
An genau so einem Instrumentarium sind die Besucher in Marcilly-le-Châtel interessiert. Drei Stunden lang schleppen sie bei brütender Hitze Instrument um Instrument auf eine überdachte Terrasse. Als alles aufgebaut ist, beginnen sie zu testen und zu spielen. Um das komplette Instrumentarium auszubreiten, hätten sie 40 Quadratmeter Platz gebraucht. So viel Raum ist aber selbst hier nicht. »Sehen Sie, das Gamelan hat ein Problem «, sagt Chazal seinen Besuchern. »Ein Raumproblem.« Platzmangel hat ihn damals bewogen, das Instrument aus Paris, wo selbst Lagerfläche kaum mehr bezahlbar ist, aufs Land zu überführen.
Drei französische Liebhaber
Seit 1999 befand sich Parikesit, wie ein javanischer Musiker und Komponist dieses Gamelan wenig später taufte, im Besitz einer französischen Eigentümergemeinschaft. Sie bestand aus der Flötistin Sylvie Chantriaux, aus Nicole Scotto d’Abusco und eben Jean-Pierre Chazal, die beide die Musik als Liebhaberei betrieben. Chazal, im Hauptberuf Informatiker und mittlerweile kurz vor der Rente, war bis zuletzt die treibende Kraft.
»Sehen Sie, das Gamelan hat ein Raumproblem«
Monsieur Chazal in seinem Keller
Hergestellt in Zentral-Java
Er war es auch, der 1998 in Indonesien das damals noch namenlose Parikesit erstmals in Augenschein nahm. Bis kurz zuvor hatte es einer wohlhabenden Landbesitzerin auf Java gehört, die in Margayudan lebte, einem Bezirk der ehemaligen Sultan-Hauptstadt Solo. Frau Daryo hatte sich das Gamelan wohl in den späten 1940er Jahren anfertigen lassen. Für gewöhnlich lagerte sie es in der Ecke einer großen Halle. Nur zu besonderen Gelegenheiten wurde es hervorgeholt und gespielt. Ein britischer Enthusiast, der sich in der Gegend gut auskannte, kaufte ihr das Gamelan ab – um es sogleich an Jean-Pierre Chazal und seine beiden Mitstreiterinnen weiterzuverkaufen, die nur noch den großen Gong gegen einen neuen austauschten, der klanglich besser zum Ensemble passt. Die drei lernten damals an der Pariser Cité de la Musique javanisches Gamelan und hatten daran so viel Freude, dass sie sogar einen Verein zur Verbreitung des Gamelan in Frankreich gründeten, die Association Parikan.
»Eine wohlhabende Landbesitzerin hatte sich das Gamelan in den späten 1940er Jahren auf Java anfertigen lassen«
Der Experte aus Hamburg
Der jüngste der Besucher in Marcilly-le-Châtel ist Steven Tanoto. Er lebt in Hamburg, hat dort sein Masterstudium in Komposition abgeschlossen – und gerade eigens seinen Frankreichurlaub unterbrochen, um hier, in der französischen Walachei, das Gamelan zu prüfen. Tanoto, 29, ist auf Sumatra geboren, die Großeltern waren Chinesen, er hat in Australien gelebt und in Dithmarschen, ehe nach Hamburg kam. Er spricht gut Deutsch und kann die verschlungene, angenehm beruhigende javanische Klingklang-Musik aus dem Gehör notieren. Die Struktur des Gamelans versteht er bis in ihre feinsten Verästelungen.
»Er kann die verschlungene, angenehm beruhigende javanische Klingklang-Musik aus dem Gehör notieren«
Tanotos Ratschlag: Kaufen!
Das ist ein unschätzbarer Vorteil für die musikpädagogische Arbeit in der Elbphilharmonie. Tanoto ist der ideale Vermittler zwischen der Musikkultur Ostasiens und den Bedürfnissen der Kursteilnehmer in Hamburg. Nachdem er auf der Terrasse eine Weile das Parikesit-Gamelan gespielt und ausprobiert hat, rät er zum Kauf. Auch ein mitgereister Gamelan-Experte aus Leverkusen rät zu. Im Laufe der kommenden Wochen macht Benjamin Holzapfel, als Emissär der Elbphilharmonie der Dritte im Bunde, den Kauf mit Chazal perfekt.
Per Containerschiff nach Frankreich – und in die Oper
Chazal ist sehr froh, dass sein Bronze-Schatz nun wieder benutzt und gespielt wird. Es hat ihn gegrämt, sein Gamelan so nutzlos in der Provinz liegen zu wissen, schließlich hat es viele Jahre seines Lebens geprägt. Im Juli 1999, ein Jahr nach seinem Besuch auf Java, waren all die schönen, schimmernden Instrumente per Containerschiff aus Singapur in Le Havre und schließlich in Paris angekommen – und damit begann für Chazals Mission eine goldene Zeit.
Denn das Instrumentarium leistete nicht nur bei Konzerten der Association Parikan guten Dienste und wurde vielfach für Bühnenproduktionen ausgeliehen, etwa für Rolf Liebermanns »Medea« an der Pariser Opéra Bastille oder für Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil. Jahrelang stand es auch französischen Schulklassen zur Verfügung. Eine Zeitlang durften französische Schüler beim Abitur in Musik sogar Gamelan als Prüfungsfach wählen. Theorie, nicht Praxis – dafür fehlte es in den Schulen dann doch an Instrumenten zum Üben.
»Das Instrument war schon an der Pariser Opéra Bastille zu hören«
Im LKW nach Hamburg
Seinen Zielort im Hamburger Hafen erreichte das Gamelan kurz vor Weihnachten 2016 auf dem Landweg. Sachgerecht verpackt und gut verstaut, trat es in einem 7,5-Tonner die lange Reise von Marcilly-le-Châtel zur Elbphilharmonie an. Erstmals zu bestaunen war es dort beim »Familientag« im Januar 2017. Und seitdem haben es schon viele Hamburger Schüler in Workshops in seinem ganzen Umfang bestaunen können. Es besteht nämlich sogar aus zwei in sich unabhängigen Teilen, aus Instrumenten für die fünftönige Slendro-Skala und solchen für die aus sieben Tönen bestehende Pélog-Skala.
Ein neuer Name: Grosser Herr Prinz duftende Blüte
Einen neuen Namen hat das Gamelan an seiner neuen Wirkungsstätte inzwischen auch bekommen. Steven Tanoto hat die javanische Inschrift auf der Innenseite des neuen großen Gongs entziffert, nach dem traditionell das ganze Instrument benannt wird. »Ki Agêng Panji Sêkar Kênaga« steht dort. Ki heißt Herr, Agêng bedeutet groß, ein Panji ist ein Ritter oder Prinz, und Sêkar Kênaga bezeichnet die Blüten des magnolienartigen Ylang-Ylang- Baums, die zwar nicht spektakulär aussehen, aber besonders intensiv duften. »Ich rate, das Gamelan Sêkar Kênanga zu nennen«, schrieb Tanoto in einem Brief an die Elbphilharmonie.
Ein eigenes Ensemble
Seit September 2017 verströmt das Slendro-Gamelan nun allwöchentlich seinen reizvollen, eigentümlichen Klang, hervorgerufen von den Hämmerchen und Filzschlägeln in den Händen eines engagierten, lernfreudigen Ensembles, das im Januar erstmals öffentlich in der Elbphilharmonie auftreten wird. Wer die Augen schließt, dem wird beim Hören bestimmt der süße Duft javanischer Blüten in die Nase steigen.
Dieser Artikel stammt aus dem Elbphilharmonie Magazin (1/2018), das dreimal pro Jahr erscheint.