Elbphilharmonie Magazin »Zuflucht«

Stichwort »Zuflucht« – die Playlist

Die Playlist rund ums Thema »Zuflucht« – aus dem Musiklexikon der Elbphilharmonie.

JOHANN SEBASTIAN BACH: DIE KUNST DER FUGE

»Flucht« heißt auf Lateinisch »fuga«. In die Musik ging dieses Wort ein als Bezeichnung für ein mehrstimmiges Stück, in dem die einzelnen Partien voreinander davonlaufen, einander jagen, sprich: versetzt einsetzen mit je derselben Melodie, die also so gebaut sein muss, dass sie als Begleitung ihrer selbst funktioniert. Die Urform der Fuge ist der Kanon, der fortwährend im Kreis geht; ihre höchste Vollendung schuf Johann Sebastian Bach 1750 mit seiner »Kunst der Fuge«, 24 vierstimmigen Fugen, die das Grundthema auf alle nur denkbaren Weisen durchspielen, einschließlich horizontaler und vertikaler Spiegelungen.

Mit dieser abstrakten Komposition von mathematischer Schönheit entzog sich Bach seinem stressigen Alltag als Kirchenmusiker. Und dass er darüber starb, just als er seinen eigenen Namen mit den Tönen B-A-C-H in die Musik integrierte, verleiht überdies dem Werk seinen Nimbus.

VALENTIN SYLVESTROV: PRAYER FOR UKRAINE

»Der berühmteste lebende Komponist der Ukraine ist nun ein Flüchtling«, titelte im März 2022 die »New York Times«. Die Rede war vom 84-jährigen Valentin Sylvestrov, der vor dem Krieg in seiner Heimat nach Berlin floh. Seine Musik wurde schon zuvor überall gespielt und ist seither erst recht in aller Munde. Für seine Bewunderer eine späte Genugtuung, denn mit der sowjetisch/russischen (Kultur-)Politik haderte Sylvestrov sein ganzes Leben lang – egal, ob er sich mit Zwölftonmusik beschäftigte oder mit der spirituellen Klangwelt orthodoxer Kirchenmusik.

Sein »Gebet für die Ukraine«, basierend auf einem alten ukrainischen Hymnus, schrieb er anlässlich der blutig niedergeschlagenen Proteste 2014 auf dem Kyjiwer Maidan- Platz, die er hautnah miterlebte. Nichts im Vergleich zu Putins Invasion: »Was jetzt passiert, ist ein tausendfach vergrößerter Maidan.«

ARNOLD SCHÖNBERG: EIN ÜBERLEBENDER AUS WARSCHAU

Kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und dem Entzug seiner Berliner Professur emigrierte Arnold Schönberg in die USA. In Los Angeles traf der Erfinder der Zwölftonmusik auf etliche andere prominente Intellektuelle, die hier glücklich Zuflucht gefunden hatten, darunter der Schriftsteller Thomas Mann und der Filmregisseur Billy Wilder.

Seine persönlichen Erlebnisse und die Berichte über die grauenhaften Ereignisse in der Heimat verarbeitete er in einer ganzen Reihe von Kompositionen; die berühmteste davon thematisiert den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Trotz ihrer relativen Kürze erreicht sie durch radikal expressionistische Stilmittel eine fast schon körperlich schmerzhafte Intensität – die wohl ausdrucksstärkste musikalische Auseinandersetzung mit dem Holocaust überhaupt.

Elbphilharmonie Magazin
Elbphilharmonie Magazin © David Lössl

Dies ist ein Artikel aus dem Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 03/2022), das drei Mal pro Jahr erscheint.

MAJID DERAKHSHANI

Berufsverbot, weil er gemeinsam mit Sängerinnen aufgetreten ist? Es klingt absurd, aber genau das ist Majid Derakhshani passiert. Denn im Iran, wo er geboren wurde, ist es Frauen seit der islamischen Revolution 1979 verboten, in der Öffentlichkeit zu singen. Dabei ist Derakhshani nicht irgendwer: Er ist einer der bedeutendsten Künstler des Landes, ein anerkannter Virtuose der Langhalslaute Tar, ein Träger der gut 1.000-jährigen klassischen persischen Musik, die ausschließlich mündlich von Lehrer zu Schüler weitergegeben wird. Aber er besaß eben auch die Kühnheit, das rein weiblich besetzte Ensemble Mahbanoo ins Leben zu rufen. Und so fand der damals 61-Jährige 2018 notgedrungen eine neue Heimat in Hamburg-Bergedorf. Ohnehin gibt es hier eine lebendige persische Community – und neue Inspirationen, die traditionelle Musik mit europäischen Einflüssen zu mischen.

CLAUDE VIVIER: LONELY CHILD

1948 als Säugling im Waisenhaus von Montreal abgegeben, mit drei Jahren von Pflegeeltern adoptiert, später wegen »mangelnder Reife« vom katholischen Priesterseminar verwiesen, offen homosexuell, Selbstfindungstrips nach Asien: Es ist die Biografie eines Outsiders, gipfelnd in einem tragischen Tod mit 35 Jahren, ermordet von einem Prostituierten in Paris. Zuflucht fand Claude Vivier einzig in der Musik, angeeignet unter den Fittichen des Klang-Gurus Karlheinz Stockhausen.

Doch ein Außenseiter blieb er auch in der Avantgarde-Szene – was ein sichtlich beeindruckter György Ligeti ausdrücklich als Qualitätsausweis betrachtete. Viviers Werke sind einerseits stark autobiografisch geprägt: »Lonely Child« beschrieb er als »langen Gesang der Einsamkeit«. Andererseits bestechen sie durch ihren Blick ins Überzeitliche, »Momente der Offenbarung«, wie Vivier selbst sagte, und entfalten eine geradezu hypnotische Strahl- und Sogkraft.

Live in der Elbphilharmonie

Am 8. März 2023 präsentieren die Starsopranistin Aphrodite Patoulidou, Dirigentin und Allround-Talent Veronika Eberle sowie das London Symphony Orchestra Viviers »Lonely Child« im Großen Saal.

Spotify-Playlist

Elbphilharmonie Magazin | Zuflucht

Elbphilharmonie Magazin »Zuflucht«
Elbphilharmonie Magazin »Zuflucht« Elbphilharmonie Magazin »Zuflucht« © Elbphilharmonie Hamburg

TAN DUN: BUDDHA PASSION

Eine ganz eigene Bedeutung hat der Begriff Zuflucht im Buddhismus. Dort bezeichnet er das Bekenntnis zu den »Drei Juwelen«: dem Religionsstifter Buddha, seiner Lehre (Dharma) und der Gemeinschaft der Gläubigen (Sangha). Zuflucht zu nehmen, bezeichnet sowohl den initialen Akt der Aufnahme, vergleichbar der christlichen Taufe, als auch eine tägliche Gebetsformel, eine Art Credo.

Ein besonderes Faible für solche Traditionen quer durch alle Kulturen und Religionen der Welt hegt der chinesische Komponist Tan Dun, vielen bekannt durch die Filmmusik zu »Tiger & Dragon«. Er schuf sowohl eine Matthäus-Passion in Anlehnung an J. S. Bach als auch die »Buddha Passion« (2018), inspiriert von mehr als 1.500 Jahre alten buddhistischen Statuen, Wandmalereien und Manuskripten in den Mogao-Grotten im Nordwesten Chinas.

BOB DYLAN: SHELTER FROM THE STORM

»Es war eine Zeit von Mühsal und Blut … sie warfen das Los über meine Kleider … da stand sie mit silbernen Armreifen und Blumen im Haar und nahm meine Dornenkrone. ›Komm herein‹, sprach sie, ›Ich gebe Dir Zuflucht vor dem Sturm‹.« Wer spricht hier? Jesus Christus, der sich nach Woodstock verlaufen hat? Ein moderner Tramp, der sich in die Gestalt des Gottessohnes hineinfantasiert? Wie in so vielen seiner Songs, deren poetische Texte er mit wenigen Akkorden unterlegt dahinnuschelt, lässt Bob Dylan die Antwort offen.

Das Magazin »Rolling Stone« führt »Shelter from the Storm« (1975) jedenfalls auf Platz 66 seiner Liste der 100 besten Dylan-Songs, der »Guardian« auf Platz 34 von »80 Dylan-Songs, die jeder kennen sollte«. Und das Fazit ist klar: Ja, man kann versuchen, sich in Kunst oder Religion zu flüchten. Aber die wichtigste Zuflucht ist und bleibt doch die Liebe.

Text: Clemens Matuschek, Stand: 1. August 2022

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