Das grandiose Philharmonia Orchestra aus London führt sein Publikum in diesem Konzert nach Skandinavien. Leiten lässt es sich dabei vom schwedisch-norwegischen Geiger Johan Dalene – einem der Top-Nachwuchsstars der Violine. Der ursprünglich geplante Esa-Pekka Salonen kann das Konzert krankheitsbedingt leider nicht dirigieren. Für ihn springt der junge US-amerikanische Stardirigent Ryan Bancroft ein, der erst kürzlich sein Debüt in der Elbphilharmonie gab. Zum Auftakt erklingt statt der Leonoren-Ouvertüre Nr. 2 die Nr. 3.
Ohnehin setzt sich Dalene besonders für die Musik nordeuropäischer Komponisten wie etwa Carl Nielsen ein. Nielsen zählt in seiner Heimat und im englischsprachigen Raum zum Standardrepertoire, wird hierzulande aber immer noch zu wenig gespielt. Sein Violinkonzert begeistert mit seinem kühnen Schwung noch immer wie bei der Uraufführung 1912.
Besetzung
Philharmonia Orchestra
Johan Dalene Violine
Dirigent Ryan Bancroft
Programm
Ludwig van Beethoven
Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 op. 72a
Carl Nielsen
Konzert für Violine und Orchester op. 33
– Pause –
Jean Sibelius
Lemminkäinen-Suite op. 22
Die Künstler:innen
Johan Dalene :Violine

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Über Johan Dalene
»Nicht nur ein Virtuose wie viele andere, er ist eine Stimme. Er hat einen Ton, eine Präsenz«, staunte das angesehene französische Musikmagazin Diapason über den jungen schwedisch-norwegischen Geiger Johan Dalene, der mit seinen gerade mal 23 Jahren bereits hochkarätige Preise gewonnen hat. 2019 entschied er den Carl-Nielsen-Wettbewerb für sich und wurde 2022 vom Musikmagazin Gramophone zum Young Artist of the Year gewählt.
Von 2019 bis 2022 war der Violinist BBC New Generation Artist und musizierte unter anderem als Solist mit den BBC-Orchestern. Die Konzerte wurden vom Radiosender BBC Radio 3 übertragen. In der Saison 2021/22 trat Johan Dalene als »Rising Star« der European Concert Hall Organisation an den bedeutendsten Konzerthäusern Europas auf. In der aktuellen Spielzeit ist der junge Musiker Artist in Residence beim Royal Liverpool Philharmonic Orchestra. Und am Konzerthaus Stockholm führte Johan Dalene mit dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra unter anderem ein Werk auf, das die schwedische Komponistin Tebogo Monnakgotla eigens für ihn komponiert hat: das Violinkonzert »Globe Skimmer Surfing the Somali Jet«.
Von Johan Dalene erschienen bereits preisgekrönte Alben. Gemeinsam mit dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra entstand 2022 unter Leitung von John Storgårds eine Aufnahme mit Violinkonzerten von Jean Sibelius und Carl Nielsen. Die Einspielung wurde beim Gramophone Award mit dem Editor’s Choice ausgezeichnet. Johan Dalenes Album »Nordic Rhapsody« von 2021 erhielt den Diapason d’Or. Auf der Aufnahme begleitet ihn Christian Ihle Hadland. Gemeinsam mit dem Pianisten erschien 2023 auch das jüngste Album, »Stained Glass«, mit Sonaten von Maurice Ravel und Sergej Prokofjew sowie Stücken von Grażyna Bacewicz.
Johan Dalene begann im Alter von vier Jahren mit dem Geigenspiel, schon drei Jahre später gab er sein professionelles Solokonzertdebüt. 2016 war er Gaststudent beim Verbier Festival in der Schweiz und wurde 2018 in das norwegische Mentoringprogramm Crescendo aufgenommen. Das Förderproramm ermöglichte ihm mit seinen Mentoren, der Violinistin Janine Jansen, dem Pianisten Leif Ove Andsnes und dem Violinisten Gidon Kremer, eng zusammenzuarbeiten. Johan Dalene spielt auf der Stradivari Duke of Cambridge von 1725. Sie ist eine großzügige Leihgabe der Stiftung Anders Sveaas.
Ryan Bancroft :Dirigent

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Über Ryan Bancroft
1989 im kalifornischen Lakewood geboren und in Los Angeles aufgewachsen, machte Ryan Bancroft erstmals 2018 von sich reden, als er den renommierten Nikolai-Malko-Wettbewerb für Dirigenten in Kopenhagen für sich entschied. Seitdem leitete er eine Reihe von führenden europäischen Klangkörpern wie die London Philharmonic, das Schwedische Rundfunksinfonieorchester und das Ensemble intercontemporain. Seit 2021 ist der US-Amerikaner Chefdirigent des BBC National Orchestra of Wales und seit 2023 Chefdirigent des Royal Stockholm Philharmonic Orchestra.
Ryan Bancroft eröffnete seine erste Spielzeit in Stockholm gemeinsam mit dem Eric Ericson Chamber Choir mit einer Uraufführung von Sven-David Sandströms »The High Mass«. Im Laufe der Saison wird er weitere Premieren leiten, darunter Werke von unter anderem Daniel Börtz und Anders Hillborg, und dabei mit Solisten wie Emanuel Ax und Seong-Jin Cho zusammenarbeiten. Außerdem wird der Dirigent sein Debüt beim NDR Elbphilharmonie Orchester mit Joshua Bell, dem Orquesta Sinfonica Castilla y Lyon mit Martin Fröst und der Netherlands Radio Philharmonic mit Bomsori Kim geben sowie erstmals in der Suntory Hall mit der New Japan Philharmonic und Midori, in der Royal Festival Hall mit dem Philharmonia Orchestra und Sir Stephen Hough sowie dem Amsterdamer Concertgebouw mit dem Nederlands Philharmonisch Orkest zu erleben sein.
Als Liebhaber moderner Musik trat Ryan Bancroft mit dem Amsterdamer Nieuw Ensemble auf, assistierte dem Komponisten Pierre Boulez bei der Aufführung seines Werks »Sur Incises in Los Angeles«, hob Werke von Sofia Gubaidulina, John Cage, James Tenney und Anne LeBaron aus der Taufe und arbeitete eng mit Improvisationskünstler:innen wie Wadada Leo Smith und Charlie Haden zusammen.
Ryan Bancroft studierte Trompete am California Institute of the Arts, daneben Harfe, Flöte, Violoncello sowie Musik und Tanz aus Ghana. Anschließend absolvierte er sein Studium der Orchesterleitung am Royal Conservatoire of Scotland, das er am renommierten Nationale Master Orkestdirectie in Amsterdam fortsetzte. Wichtige Mentoren waren Edward Carroll, Kenneth Montgomery, Ed Spanjaard und Jac van Steen.
Philharmonia Orchestra

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Über das Philharmonia Orchestra
1945 gegründet, gehörte das Philharmonia Orchestra bald zu den bedeutendsten Aufnahmeorchestern überhaupt. Seine Einspielung von Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 5 wurde auf die legendäre Goldene Schallplatte gepresst und 1977 mit den Raumsonden Voyager 1 und 2 ins All geschossen, um möglichem außerirdischen Leben die menschliche Kultur zu präsentieren. Nach wie vor ein Vorreiter bei technischen Entwicklungen, zieht das Philharmonia Orchestra heute sein Publikum unter anderem mit immersiven Installationen und Virtual-Reality-Erlebnissen in den Bann.
2021 übernahm der Finne Santtu-Matias Rouvali den Posten als Chefdirigent des Klangkörpers. Er reihte sich damit ein in eine Riege klangvoller Namen, darunter Herbert von Karajan, Otto Klemperer, Arturo Toscanini,
Riccardo Muti und Esa-Pekka Salonen. Seit 1995 hat das Philharmonia Orchester seine Heimat in der Royal Festival Hall des Southbank Centre im Herzen Londons gefunden. Darüber hinaus verfügt das Ensemble über Residenzen in ganz Großbritannien, von Leicester und Canterbury bis zur Garsington Opera. Tourneen führen das Philharmonia Orchestra regelmäßig durch Europa, wo es an Konzerthäusern wie der Hamburger Elbphilharmonie und dem Concertgebouw in Amsterdam gastiert, aber auch bis nach Japan und China.In der Spielzeit 2023/24 sind die britische Violinistin Nicola Benedetti und die US-amerikanische Sopranistin Julia Bullock Featured Artists des Philharmonia Orchestra. Artist in Residence ist derzeit der britisch-indische Musikvirtuose Soumik Datta, der mit dem Sarod ein traditionelles Saiteninstrument der indischen Musik vorstellt.
In langer Tradition vergibt das Philharmonia Orchestra Kompositionsaufträge. So gab es Uraufführungen von Werken von Richard Strauss, Sir Peter Maxwell Davies und Kaija Saariaho. Seine Filmaufnahmen reichen bis ins Jahr 1947 zurück, und das Orchester ist nach wie vor sehr gefragt auf dem Gebiet der Film- und Videospiel-Kompositionen in Großbritannien und Hollywood. Rund 150 Soundtracks spielte das Philharmonia Orchestra inzwischen ein und brachte damit Generationen von Kinobesuchern und Gamern klassische Orchestermusik näher.
Die Musik
Ludwig van Beethoven: Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 (1804–1805)
Im Herbst 1805 vollendete Ludwig van Beethoven nach einer langen und intensiven Arbeitsphase seine erste und einzige Oper »Leonore«, die später – in veränderter Version – als »Fidelio« in die Musikgeschichte eingehen sollte. Lange hatte Beethoven sich mit dem Gedanken getragen, ein szenisches Werk zu komponieren. Im Sinn hatte er dabei eine »Rettungs- und Befreiungsoper«, gemäß der aufklärerischen Maximen, die er sich zu eigen gemacht hatte.
Doch die Sujets, die ihm angeboten wurden, entsprachen nicht seinem Geschmack. Erschwerend kam hinzu, dass Beethovens künstlerisches Hauptaugenmerk bisher auf der Instrumentalmusik gelegen hatte. Die Komposition eines groß angelegten Vokalwerks, mit einzelnen »Nummern« und breit gestalteten, auch textlich in Verbindung stehenden Abschnitten, stellte deshalb eine Herausforderung für den Komponisten dar. Erst als er 1804 das Libretto »Léonore, ou L’amour conjugal« des Franzosen Jean Nicolas Bouilly in den Händen hielt, sah Beethoven die Gelegenheit gekommen, sich der anspruchsvollen Aufgabe einer Opernkomposition zu widmen.

Vor allem die Komposition der Ouvertüre bereitete Schwierigkeiten: Sollte sie doch die Aufmerksamkeit der Zuhörer:innen erregen, als instrumentaler Prolog zum Rest des Werkes Stellung beziehen und dabei zugleich einen Zusammenhang herstellen. Beethovens »Leonoren-Ouvertüre« ist ein hochgradig dramatisches musikalisches Kondensat, das wichtige Handlungsmomente der Oper, in der eine Frau ihren Ehemann aus dem Staatsgefängnis von Sevilla befreien versucht und dafür ihr Leben aufs Spiel setzt, gleichsam in verdichteter Form vorwegnimmt.
Bereits in den ersten Takten werden die Hörer:innen von C-Dur ausgehend über eine dunkle Abwärtsskala gleichsam in Florestans Kerker geführt, bevor das Thema seiner Arie »In des Lebens Frühlingstagen« in As-Dur in den Holzbläsern zu hören ist. Auch die handlungsentscheidenden Trompetensignale aus dem Schlussakt der Oper erklingen in der Ouvertüre, die mit einer jubelnden C-Dur Coda die Freiheit des Helden musikalisch bestätigt.
Jonas Kaufmann singt »In des Lebens Frühlingstagen«
Die Pressestimmen nach der Uraufführung am 20. November 1805 machen deutlich, dass der Misserfolg der Oper auch an der Ouvertüre festgemacht wurde. So monierte ein Kritiker, sie bestehe »aus einem sehr langen, in alle Tonarten ausschweifenden Adagio, worauf ein Allegro aus C dur eintritt, das ebenfalls nicht vorzüglich ist«. Das Werk stehe insgesamt in »keinerlei Vergleich zu anderen instrumentalen Kompositionen von Beethoven«. So lief die Oper denn auch nur drei Nächte und wurde aus dem Programm genommen. Dies veranlasste Beethoven, sie im Anschluss mehrere Male zu überarbeiteten. Und bis die finale Version der Oper »Fidelio« vollendet wurde, hatte der selbstkritische Komponist insgesamt noch drei weitere Fassungen der Ouvertüre angefertigt. Ihre genetische Substanz ist zwar dieselbe, doch stehen sie alle in unterschiedlicher Beziehung zur Oper.
Mit der zweiten Fassung aus dem Jahr 1806, die aufgrund einer fehlerhaften Datierung als »Leonoren-Ouvertüre Nr. 3« bekannt ist, zeigt das Philharmonia Orchestra unter Ryan Bancroft heute Abend, wie Beethoven die Essenz der Oper kompositorisch herausgearbeitet hat: Die Musik skizziert nicht nur die Handlung, sondern leuchtet ihre verschiedenen Stimmungen und die Gefühlslagen der Protagonisten aus. Die eindrucksvolle »Leonore 3« etablierte sich schnell unabhängig von der Bühne im Konzertsaal und fand ihren festen Platz im sinfonischen Repertoire.
Carl Nielsen: Violinkonzert (1911)
Die Suche nach der richtigen musikalischen Form beschäftigte auch den dänischen Komponisten Carl Nielsen, als er im Jahr 1911 die Arbeit an seinem ersten Violinkonzert aufnahm. Der damals 46-Jährige hatte zu diesem Zeitpunkt unter anderem bereits zwei Opern und zwei große Sinfonien komponiert und sich dadurch als Komponist in seiner Heimat Dänemark etabliert. Ein wirklich durchschlagender Erfolg war jedoch bisher ausgeblieben. Schon lange hatte sich Nielsen mit dem Gedanken getragen, ein Instrumentalkonzert zu komponieren, diesen Gedanken aber nicht in die Tat umgesetzt. Als er im Juni 1911 seine Dritte Sinfonie beendet hatte und von Nina Grieg, der Witwe des berühmten norwegischen Komponisten Edvard Grieg, auf deren Landsitz eingeladen wurde, sah er schließlich die Zeit gekommen, sich dieser Aufgabe zu widmen. An seine Frau Anna schrieb Nielsen: »Hier herrscht süßer Frieden und Ruhe, und ich glaube, ich kann etwas erreichen.« Die Arbeit an dem Werk ging ihm jedoch nicht leicht von der Hand, und erst im Dezember 1911 betrachtete Nielsen das Konzert als vollendet.
Die Herausforderung, die gegebenen Konventionen der Gattung mit dem eigenen kompositorischen Anspruch zu verbinden, führten Nielsen letztendlich zu einer recht eigenwilligen musikalischen Anlage des Werks. Er entschloss sich, vom dreisätzigen Aufbau des Konzerts, der seit Wolfgang Amadeus Mozart für dieses Genre typisch war, abzuweichen. Stattdessen unterteilte er sein Werk in zwei kontrastierende Sätze, von denen jeder aus einer langsamen Einleitung besteht, gefolgt von großen, schnellen Absätzen. Ein absolutes Novum war es vor allem, das erste Solo der Violine – untermalt von Hörnern und Fagotten – unmittelbar am Anfang des ersten Satzes erklingen zu lassen.

Mit der Darbietung des Konzerts heute reiht sich der Violinist Johan Dalene, der bereits 2022 als Rising Star in der Elbphilharmonie zu hören war, in die Reihe herausragender nordischer Virtuosen ein, die sich dieses Werks annehmen. Schon für Nielsen stand die Solo-Violine im Zentrum seiner kompositorischen Arbeit, und er hatte den Dänen Peder Møller im Gedächtnis, dem er das Werk widmete. Møller war es auch, der nach nur kurzer Probenzeit eine fulminante erste Aufführung des Konzerts am 28. Februar 1912 im Odd Fellow Palæ in Kopenhagen absolvierte.
Die Uraufführung des Konzerts, die zusammen mit der Aufführung von Nielsens Dritter Sinfonie stattfand, war ein grandioser Erfolg, der Nielsen zum langersehnten Durchbruch als Komponist verhalf. In der Presse wurde ausführlich über das Konzert berichtet. Und wenngleich stellenweise Kritik an der unkonventionellen Anlage von Opus 33 geäußert wurde, so waren sich die meisten Kritiker doch einig, dass es sich hier um ein Meisterwerk handle. »Das Konzert als Ganzes ist ein eigenartiges Werk«, so die Zeitung »Aftonbladet«. »Es könnten zwei verschiedene Werke sein, die getrennt gespielt werden. Übrigens ein ausgezeichnetes Stück Violinenmusik: das leidenschaftliche, singende Andante; das fröhliche Finale, das den Harlekin in einigen witzigen Passagen spielt, die auch von Melancholie durchzogen sind – ein brillant komponiertes Stück.« So beflügelt vom Erfolg schrieb Nielsen in einem Brief voller Genugtuung und mit einer sympathischen Portion der Selbstironie: »Mein ›Erfolg‹ war überwältigend, und die Stadt spricht viel darüber, meine Nase ist fast 17 Zentimeter nach oben gerichtet!«
»Tatsache ist, dass es aus guter Musik bestehen und dennoch die Zurschaustellung des Soloinstruments im besten Licht berücksichtigen muss, das heißt: inhaltsreich, populär und brillant, ohne oberflächlich zu sein.«
Carl Nielsen über sein Violinkonzert
Jean Sibelius: Lemminkäinen-Suite (1893)
Fast 100 Jahre nach Beethovens »Fidelio« kämpfte ein anderer Komponist mit der Gattung der Oper: Jean Sibelius. Angeregt durch das »Gesamtkunstwerk« Richard Wagners, kam der finnische Komponist zu der Schlussfolgerung, dass Musik ohne Worte unvollständig sei und plante zu Beginn der 1890er Jahre seine eigene Oper über finnische Mythen: »Der Bootsbau«. Bereits 1893 vollendete er die Ouvertüre – doch als Sibelius das Libretto schließlich einem wichtigen Mäzen zeigte, hielt dieser das Thema für ungeeignet. Um sich weiter inspirieren zu lassen, reiste der Komponist zuerst nach Bayreuth und München, wo eine Aufführung des Tristan den allergrößten Eindruck auf ihn machte. Doch statt dem gewünschten Impuls führten die Besuche der Wagner-Opern den Komponisten in eine tiefe Krise, und er sah sich außer Stande, seine kompositorischen Tätigkeiten überhaupt weiterzuführen.
»Ich glaube, dass ich eigentlich ein Musikmaler und Dichter bin. Ich behandle gerade ein mir sehr liebes Thema.«
Jean Sibelius
Die Überwindung dieser künstlerischen Blockade gelang ihm letztendlich durch die Vertiefung in die Musik von Franz Liszt. Angeregt davon schrieb er 1894 in einem Brief: »Ich glaube, dass ich eigentlich ein Musikmaler und Dichter bin. Ich behandle gerade ein mir sehr liebes Thema.« Dieser Brief bezieht sich vermutlich auf die »Lemminkäinen-Suite«, die sich nun zu formieren begann. Und anstelle einer Oper plante Sibelius nun eine Art von Programmsinfonie. Tatsächlich ist die Suite eine Sammlung von vier sinfonischen Dichtungen, die erst 1954 als Ganzes veröffentlicht wurden. Inhaltlich basieren sie auf Legenden aus dem Kalevala, in denen auch die Abenteuer des finnischen Schamanen Lemminkäinen und das Totenreich Tuonela behandelt werden. Musikalisch verwendete Sibelius jedoch Splitter seiner gescheiterten Oper »Der Bootsbau«, die er nun für sein Instrumentalwerk nutzte.

Was die literarische Vorlage betrifft, so basiert der erste Teil der Suite »Lemminkäinen und die Mädchen auf der Insel« auf Rune 29 aus dem Kalevala: Lemminkäinen, der freudvolle, hübsche Held, wird von den Einwohnern in Pohjola gejagt, flieht aus seinem Elternhaus und segelt auf das offene Meer hinaus. Er landet auf einer Insel, wo er als Minnesänger erfreut. Der zweite Teil »Der Schwan von Tuonela« bezieht sich nicht direkt auf das Kalevala, doch verwies Sibelius in der Partitur dezidiert auf das »Reich des Todes – die Hölle der finnischen Mythologie«, umgeben von einem schwarzen Fluss, »auf dem der Schwan von Tuonela majestätisch und singend dahinzieht«.
Im dritten Teil »Lemminkäinen in Tuonela« (Rune 14) wirbt Lemminkäinen um die Tochter von Louhi, der Herrin von Pohjola. Louhi stellt ihm drei Aufgaben, wobei die letzte davon ist, den Schwan aus dem Fluss von Tuonela zu jagen, der die Welt der Lebenden von der Welt der Toten trennt. Aber bevor Lemminkäinen den Schwan erblickt, tötet ihn ein Hirte und wirft ihn in den Fluss. Nachdem Lemminkäinens Mutter von seinem Tod erfahren hat, macht sie sich auf die Suche nach ihm, sammelt seine Überreste aus dem Fluss und belebt ihn neu. Im letzten Teil »Lemminkäinens Rückkehr« (Rune 30) kehrt der Held nach erfolgreichen Schlachten zu seiner Mutter zurück.
In der Komposition wird deutlich hörbar, dass Sibelius die mythologische Vorlage nutzte, um bestimmte Atmosphären in Musik zu übersetzen. Doch war ihm dabei wichtig, nicht in platte Lautmalerei zu verfallen, sondern wirklich neue Formen der musikalischen Erzählung mit sinfonischen Mitteln zu erschaffen. Zur Auflösung des Satz-Zusammenhalts ging Sibelius über, als das Werk nach seiner Uraufführung im April 1869 – die der Komponist selbst dirigierte – zunächst auf gemischte Reaktionen stieß. So monierte ein Kritiker, das langsame Solo des Englischhorns im »Schwan von Tuonela« sei »kolossal lang und lästig«.
Im Anschluss überarbeitete der Finne das Werk erstmalig, doch obwohl sich das Publikum nach der neuen Aufführung nun begeistert zeigte, fiel das Werk in der Presse erneut durch. Sibelius, den die Kritiken tief verletzten, behielt daraufhin nur den »Schwan von Tuonela« und »Lemminkäinen zieht heimwärts« in seinem Repertoire. Es waren diese Werke, die ihm am Anfang des 20. Jahrhunderts auch zu seinem internationalen Durchbruch verhalfen. Die beiden anderen Sätze blieben jahrzehntelang vergessen, Sibelius sollte sie nie wieder dirigieren.
Text: Verena Mogl