Er ist ein Genie an der Orgel und ein charismatischer Dirigent, Komponist und Unterhalter: Der Brite Wayne Marshall kann Kirchenmusik und Jazz, Bach und Broadway – und begeistert damit ein Publikum weltweit. Zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven improvisiert er in der Elbphilharmonie über Themen des großen Jubilars. Zuvor spielt er gewichtige Werke der französischen Orgelliteratur, eine vertrackte Toccata und Fuge seines kanadischen Kollegen Andrew Ager und eine Improvisation über Musik seines künstlerischen Fixsterns Leonard Bernstein.
Der Künstler
Wayne Marshall genießt als Dirigent, Organist und Pianist gleichermaßen hohes Ansehen weltweit. Seit 1996 ist er Organist in Residence an der Bridgewater Hall in Manchester. Nachdem er von 2014 bis zum Sommer 2020 Chefdirigent des WDR Funkhausorchesters war, konzentriert er sich nun wieder vermehrt auf solistische Projekte. Einen besonderen Fokus legt der Brite dabei auf die Musik von George Gershwin, Leonard Bernstein und zeitgenössischen amerikanischen Komponisten.
Programm
Wayne Marshall
Improvisation »Hommage à Lenny«
Charles-Marie Widor (*1844–1937)
Sinfonie Nr. 6 g-Moll op. 42/2
George C. Baker (*1951)
Deux Évocations
Andrew Ager (*1962)
Toccata und Fuge
Wayne Marshall
Improvisation über Themen von Ludwig van Beethoven
Im Geist der Improvisation :Zu den Werken des Konzerts
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Improvisation: Hommage à Lenny
AUS DEM STEGREIF
Zur Improvisation gehört natürlich auch Inspiration. Dieses Wort trifft auf Leonard Bernstein gleich doppelt zu: als Komponist und Pianist flog ihm die Inspiration nur so zu, und als Dirigent, Humanist und Motivator inspirierte er Mitstreiter und Zuhörer auf der ganzen Welt. Obgleich klassisch ausgebildet, war er in musikalischer Hinsicht sehr polyglott. Kein Genre war ihm fremd, kein Stil zu entfernt, um nicht das Beste aus allen musikalischen Welten zu einem unglaublich vielfältigen und facettenreichen Gesamtwerk ohne jegliche Berührungsängste zu verschmelzen. Völlig ohne Vorurteile nutzte und kombinierte er Klassik, Musical, Jazz, Blues, Rock und lateinamerikanische Musik – man denke nur an die West Side Story. Für die Kritiker der damaligen Zeit war das skandalös, doch Bernstein, der auch Sinfonien, Lieder, Kammer-, Klavier- und Filmmusik schrieb, scherte sich einen Teufel um Konventionen. Worüber auch immer Wayne Marshall heute aus dem Stegreif improvisiert, eines ist sicher: für eine Hommage à Lenny bietet Bernsteins Schaffen genug Inspiration.
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Charles-Marie Widor: Sinfonie Nr. 6
SINFONISCHES SCHWERGEWICHT
Einer der größten Hits der Orgelliteratur ist die Toccata aus der Fünften Orgelsinfonie von Charles-Marie Widor. Neben diesem Schwergewicht führen seine weiteren neun Orgelsinfonien ein gewisses Schattendasein. Dabei sind sie nicht weniger hörenswert, illustrieren sie doch den Höhepunkt der französischen Orgelromantik. Maßgeblich geprägt wurde er durch die neuartigen, riesigen Instrumente des Orgelbauers Aristide Cavaillé-Coll. Als Titular-Organist der Pariser Kirche St. Sulpice – ein Amt, das Widor ganze 64 Jahre (!) ausübte – hatte er eine solche »Spielwiese« zur Verfügung. »Die moderne Orgel ist im Wesentlichen sinfonisch«, lautete daher seine Prämisse. »Für dieses neue Instrument müssen wir eine neue Sprache und ein anderes Ideal als die scholastische Polyphonie haben.« Mit anderen Worten: Ein neuer Instrumententypus verlangt auch nach neuer Musik. Weniger Fugen im Stile Bachs, mehr breitwandige Klanggemälde im Stile aktueller Orchesterwerke. Folgerichtig nannte Widor seine Stücke »Sinfonien«. Die Sechste schrieb er 1878 für die Weltausstellung in Paris zur Einweihung einer neuen Cavaillé-Coll-Orgel im neuen, heute leider teilweise abgerissenen Saal namens Trocadéro.
Der erste Satz ist ein vor expressiver Vitalität nur so strotzendes und ziemlich virtuoses Allegro, dessen direkt zu Beginn vorgestelltes erstes Thema voller Dramatik steckt. Einen Kontrast dazu bildet ein zweites Thema, das wie ein Rezitativ wirkt. Das folgende Adagio basiert auf einem choralartigen Thema, das vielfach variiert wird. Albert Schweitzer zufolge wurde dieser Satz durch die Musik Richard Wagners inspiriert, die Widor kurz zuvor in Bayreuth gehört hatte. Der mittlere dritte Satz ist ein Scherzo, bei dem ein ruhiger Mittelteil von zwei virtuosen Rahmenteilen umschlossen wird. Im folgenden Cantabile komponiert Widor reinstes Belcantound lässt eine Solostimme singen. Das abschließende marsch-ähnliche Rondo ist voller dynamischer Kontraste und gipfelt in einer stürmischen Coda.
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George C. Baker: Deux Évocations
A LA FRANÇAISE
Ganz in der französischen Tradition stehen die Deux Évocations von George C. Baker, die zwei Heroen der dortigen Orgelkultur gewidmet sind: Louis Vierne und Pierre Cochereau. Beide waren Titular-Organisten der Pariser Kathedrale Notre-Dame; beide waren nicht nur Komponisten, sondern haben sich auch als geniale Improvisatoren einen Namen gemacht. Baker wiederum ist nicht nur als Organist eine Koryphäe: Im Hauptberuf ist er Dermatologe und zählt auch als solcher zu den renommiertesten Vertretern seines Faches. Die beiden Widmungsträger haben seine Musik tief geprägt.
Die Themen, die den Évocations zu Grunde liegen, sind gregorianischen Ursprungs: Die meditative erste Évocation verwendet Hymnen, die mit Jesu Mutter Maria assoziiert werden – direkt am Anfang etwa in einem Pedalsolo, das von ruhig voranschreitenden Akkorden begleitet wird. Die zweite Évocation beginnt mit ruhelos pulsierenden Akkorden und entwickelt sich zu einer mitreißenden Toccata. Direkt am Anfang zitiert sie die Ostersequenz Victimae paschali laudes.
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Andrew Ager: Toccata und Fuge
TRADITIONSGATTUNG
Eigentlich stand Andrew Agers Karriere als Komponist unter keinem guten Stern: Der versierte Pianist flog von der Schule und musste sich die entsprechenden Fertigkeiten im Heimstudium selbst beibringen. Den Durchbruch schaffte der Kanadier nicht zuletzt mit einer Reihe von Orgelwerken. Heute gilt er als einer der gefragtesten Komponisten seiner Generation und ist mit Opern wie »Frankenstein«, »Casanova«, »Führerbunker« an vielen Häusern präsent.
Mit »Toccata und Fuge« widmet sich Ager einer traditionellen Orgelgattung, die er jedoch mit zeitgemäßem Leben füllt. Das vertrackte Präludium lebt von zusammengesetzten Rhythmen und sich ständig verschiebenden Betonungen. Die Fuge beginnt ganz harmlos in C-Dur, löst sich jedoch nach und nach von konventionellen Regeln – sowohl denen einer Fuge als auch der Tonalität – und endet mit einem fulminanten Finale.
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Improvisation über Themen von Ludwig van Beethoven
IMPROVISATOR BEETHOVEN
Zwei Messen gab es jeden Vormittag am Hofe des Bonner Kurfürsten. An allen Sonn- und Feiertagen musste zudem noch die nachmittägliche Vesper begleitet werden. Ein nicht unerhebliches Arbeitspensum für den jungen Ludwig van Beethoven, der dort als zweiter Hoforganist angestellt war. Doch auch die Gelegenheit, einen reichen Schatz an Erfahrungen zu sammeln, denn es wurde stets viel improvisiert. Davon dürfte Beethoven später bei zahlreichen »Improvisationsduellen« sehr profitiert haben, etwa im Wettstreit mit dem Komponisten Joseph Woelfl. Auch bei Aufführungen seiner Klavierkonzerte improvisierte Beethoven oft aus rudimentären Skizzen – meist, weil er mit der ordentlichen Niederschrift nicht rechtzeitig fertiggeworden war. Viele Anknüpfungspunkte also für Wayne Marshall, der zum Abschluss des heutigen Konzerts seinerseits über Themen von Beethoven improvisiert.