Die Karlsbrücke in Prag, um 1840. Gemälde von František Xaver Sandmann

Hudba! Tschechische Musik und ihr Nationalstil

So klingt Heimat: Wie Bedřich Smetana, Antonín Dvořák und Leoš Janáček einen einzigartigen Nationalstil entwickelten – und damit die Welt eroberten.

Zumindest darauf kann man sich in Europa weitgehend verständigen: Muzikë sagt man auf Albanisch, Mousikí auf Griechisch, Muziek auf Niederländisch, Música auf Portugiesisch. Aber was ist das: Hudba? So sagen die Tschechen zur Musik, sanft ausgesprochen, mit respektvoll aufeinander treffenden Konsonanten in der Mitte, die einander nichts von ihrem weichen Klang nehmen: hud’ba. Ein schönes, altes Wort hat es sich da bewahrt, dieses kleine, eigensinnige, traditionsbewusste und sehr musikalische Volk.

Co Čech, to hudebník, so sagt man gern im Lande – jeder Tscheche ist ein Musiker. Oder, viel besser übersetzt: Wås a Behm is, is a Musikant. Und nein, beides hier ist keinesfalls despektierlich zu verstehen: Nicht das Böhmakeln, das eben nicht bloß ein tschechischer Akzent im Deutschen ist, sondern fast schon eine eigene Sprache, die in Prag, Brünn, Budweis und Wien einst bis zur Salonfähigkeit kultiviert wurde; und auch nicht das ehrsame Wort Musikant, das die Fähigkeiten seines Trägers eben nicht schmälert, sondern ihm im Gegenteil einen besonders unmittelbaren Zugang zur Musik beglaubigt.

Karlsbrücke in Prag
Karlsbrücke in Prag © Moyan Brenn

Kleines Volk, große Komponisten

Wie auch immer: Der Spruch mag, wie jeder gute Spruch, übertrieben sein, aber es ist schon etwas Wahres dran. Das lässt sich sogar durch ein paar halbwegs handfeste Zahlen belegen: Es gibt zehn Millionen Tschechen. Und es gibt acht Millionen Schweizer, neun Millionen Weißrussen, zehn Millionen Schweden, je elf Millionen Griechen und Portugiesen, zwölf Millionen Belgier und sogar 17 Millionen Niederländer. Alle klassisch­romantischen Komponisten dieser Länder zusammengenommen sind auf den Konzertpodien und Opernbühnen der Welt nicht annähernd so oft zu hören wie jeder einzelne der drei großen tschechischen Komponisten – Bedřich Smetana, Antonín Dvořák, Leoš Janáček. Für ein so kleines Land ist das doch sehr beachtlich; und es wird auch dadurch nicht geschmälert, dass es die acht Millionen Österreicher mit Mozart & Co. auf einen noch besseren Wert bringen.

Zugegeben, belegbar ist diese Statistik nicht; aber bestätigen wird sie wohl jeder regelmäßige Konzertbesucher zwischen London, Paris und Hamburg. Zufall? Göttlicher Wille? Oder doch bloß ein Klischee? Es gibt durchaus ein paar historische Gründe für das Phänomen – und sie haben alle auch mit den beiden deutschsprachigen Nachbarn zu tun, mit denen Tschechien nicht nur den längsten Teil seiner Außengrenze, sondern auch die meisten Jahrhunderte seiner Geschichte teilt.

Der von Maria Theresia gestaltete Eingangsbereich in die Prager Burg. Eduard Gurk: Am Hradschin in Prag, 1836 (?)
Der von Maria Theresia gestaltete Eingangsbereich in die Prager Burg. Eduard Gurk: Am Hradschin in Prag, 1836 (?) © Albertina

»Wie Böhmen noch bei Öst’reich war«

Seit dem hohen Mittelalter und bis 1806 war Böhmen Teil des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation – wenn auch in einer privilegierten Sonderrolle, deren sichtbarster Ausdruck die Königswürde war, die dem Landesherrn in Prag als einzigem neben dem deutschen König zustand. Fast 400 Jahre lang aber, von 1526 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918, saßen auf dem böhmischen Thron keine tschechischen Herrscher mehr, sondern die Habsburger aus Wien. Und diese Zeit, »wie Böhmen noch bei Öst’reich war«, hat man in Böhmen durchaus ambivalent wahrgenommen. Vor allem in ihren letzten Jahrzehnten.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam in vielen Ländern Europas der Ruf nach Demokratie auf – und Hand in Hand mit ihm der Wunsch nach nationaler Eigenständigkeit. Das war in Böhmen nicht anders, doch spitzte sich die Situation auf eine besondere Weise zu: Spätestens seit dem 10. Jahrhundert lebte dort eine stetig wachsende deutschsprachige Minderheit – Kaufleute und Akademiker in den Städten, Bauern in den Waldgebirgen –, die schließlich ein Drittel der Gesamtbevölkerung stellte. Das funktionierte die meiste Zeit hindurch ganz tadellos und hat beide Seiten kulturell und wirtschaftlich bereichert.

Heimliche Nationalhymne: Bedřich Smetana: Die Moldau (Berliner Philharmoniker)

Die aufkommende Nationalisierung aber machte die Sprache zum Symbol eines Unterschieds, der bis dahin kaum empfunden worden war. Tschechischsprachige und deutschsprachige Böhmen drifteten auseinander; in kurzer Zeit bildeten sich zwei Parallelgesellschaften mit jeweils eigenen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebenswelten: Es gab tschechische und deutsche Parteien, Vereine, Theater, Opernhäuser, selbst die beiden Flaniermeilen in der Prager Altstadt waren sprachlich aufgeteilt. Aus dem nationalen Aufbruch war ein ausgewachsener Nationalitätenkonflikt geworden (der schließlich ein für beide Seiten unrühmliches Ende nehmen sollte: in der Besetzung der Tschechoslowakei durch Nazi­-Deutschland 1939 und der Vertreibung der deutschsprachigen Minderheit 1946).

Tschechische Wiedergeburt

Das ist, in groben Zügen, die historische Ausgangslage für den Aufschwung der tschechischen Musik im 19. Jahrhundert, der in Smetana, Dvořák und Janáček seinen Höhepunkt fand. Natürlich hatte das Land auch vor diesen drei Granden viele bedeutende Komponisten, etwa den von J. S. Bach verehrten Jan Dismas Zelenka (1679–1745) oder den von Mozart hoch geschätzten Josef Mysliveček (1737–1781). Böhmische Musiker waren seit Generationen an allen großen Höfen Europas tätig, pflegten und prägten meisterhaft die verschiedenen Stile. Beides wollte der neue Zeitgeist der Romantik ändern: Nun sollte auch Prag selbst (wieder) zu einem wichtigen Musikzentrum werden, nun sollte es endlich auch einen eigenen nationalen, einen böhmischen Stil geben.

Ähnliche Wünsche trieben seinerzeit die Künstler in vielen Ländern um – nicht zuletzt in denen, die sich 1871 zum Deutschen Reich vereinigen sollten. Dichter, Maler, Architekten, Bildhauer, sie alle waren begeistert von der neuen Idee der Nation, und man sollte – gerade angesichts aktueller politischer Tendenzen – nicht vergessen, dass diese Idee eine fortschrittliche war: Nation und Volk, das bedeutete in erster Linie das Gegenteil von europaweit verschwägerten Herrscher-­Dynastien in feudaler Pracht und Gottesgnadentum.

Leoš Janáček um 1890
Leoš Janáček um 1890

Die Historiker der Zeit sprangen den Künstlern nach Kräften bei. Sie suchten Wurzeln, Glanz und Ruhm ihrer Völker in mythischer Vorzeit, edierten die alten Heldenepen und Chroniken – und lieferten so den Stoff für die nationale Selbstvergewisserung. Doch genau dabei hatte Böhmen Pech – und das war für die Musik ein großes Glück: Schmerzlich vermissten die national gesinnten Tschechen ein schönes, eigenes Beispiel mittelalterlicher Dichtung, wie sie die deutschen und französischen Kollegen damals so sehr entzückte. Und riesig war die Begeisterung, als 1817 ein ganzes Bündel solcher Pergamente entdeckt wurde. Die Liebes­ und Heldenlyrik dieser »Königinhofer Handschrift«, datiert auf das 13. Jahrhundert, hatte passenderweise auch noch einen anti­deutschen Einschlag. Umgehend wurden diese Texte rezipiert, interpretiert, bearbeitet, nachgedichtet, sie prägten praktisch die gesamte Literatur der tschechischen Frühromantik – und wurden 1858 als Fälschung entlarvt.

Damit war die Literatur, die bis dahin den nationalen Diskurs bestimmt hatte, wenn nicht diskreditiert, dann zumindest stark geschwächt. Und an ihre Stelle trat die Musik. Smetana, Dvořák, und später Janáček waren zur Stelle und fanden drei sehr unterschiedliche Wege, um die »tschechische Wiedergeburt« musikalisch zu befeuern.

Antonín Dvořák
Antonín Dvořák © Wikimedia Commons

Bedřich Smetana und die Moldau

Bedřich Smetana (1824–1884), der Älteste der drei, setzte ganz auf die Programmmusik, um seine Heimat zu verherrlichen. Er dichtete starke Bilder, Szenen und Geschichten aus der Historie des Landes in Tönen nach. Das beste Beispiel dafür ist nicht zufällig auch sein bekanntestes Werk: Der symphonische Zyklus »Má vlast« (»Mein Vaterland«) schildert die alte Prager Burg Vyšehrad, erzählt die Legende der Amazonenkönigin Šárka, berichtet von mittelalterlichen Schlachten, erinnert an den Berg Blaník, aus dem dereinst die Helden zur Rettung des Landes auferstehen sollen – und er erhöht die Moldau zum Nationalfluss Böhmens, zu einem Gegenbild der österreichischen Donau und des deutschen Rheins. Wie das klingt, weiß man seither auch hierzulande.

Wälder, Märchen, Menschen: Antonín Dvořák

Antonín Dvořák (1841-1904) wählte einen anderen Weg. Er zog sich aufs Land zurück, wo er das eigentliche Herz Böhmens schlagen hörte. Anders als der programmatische Smetana blieb er, der Melodiker von Gnaden, der absoluten Musik treu, fand in Volkstänzen die Anregung für seine hinreißende rhythmische Agilität (»Dumky­Trio«) und appellierte damit weniger an das Nationalbewusstsein der Tschechen, als dass er ihnen von ihrem Land, ihren Wäldern, Märchen und Menschen erzählte – nicht von Nation, sondern von Heimat.

Antonín Dvořák: Slawischer Tanz Nr. 13 »Špacírka« (Czech Student Philharmonic / Sir Simon Rattle)

Leoš Janáček blickt nach Osten

Für Leoš Janáček (1854–1928) schließlich, den Jüngsten der drei, stellte sich die politische Situation schon anders dar. 1867 hatten die Ungarn dem Kaiser in Wien weitreichende nationale Zugeständnisse abgetrotzt; doch den Tschechen, die einen ähnlichen Status verlangten, kam die österreichisch­ungarische Doppelmonarchie bis zu ihrem Ende 1918 kaum entgegen: Sie wollte nicht zur Tripelmonarchie werden.

»Sie ist ein patriotisches Statement.« Semyon Bychkov über Janáčeks Glagolitische Messe

Enttäuscht wandte sich Janáček dem Panslawismus zu, der die Gemeinsamkeiten der slawischen Völker von Böhmen bis Russland betonte, auch in ihrem Streben nach nationaler Unabhängigkeit. Er suchte in der russischen Literatur nach Themen für seine Opern (»Aus einem Totenhaus«, »Katja Kabanowa«) und ließ sich von Volksliedern und altslawischen Kirchengesängen ebenso inspirieren wie von Naturlauten. Vor allem aber studierte er die ganz besondere Melodie und den sehr speziellen Rhythmus des gesprochenen Tschechisch, übertrug dessen von strengen Betonungsregeln geprägte Charakteristika in (nicht nur vokale) Musik und entwickelte daraus seinen unverwechselbaren Personalstil. Der sprachliche Eigensinn der Tschechen hat in Janáček Hudba seinen schönsten Ausdruck gefunden.

Autor: Carsten Fastner

Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (01/2018)

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