Birgit Minichmayr

Ensemble Resonanz / Birgit Minichmayr / Riccardo Minasi

Letzte Worte: Musik von Joseph Haydn mit Texten von Wolfgang Herrndorf. Video verfügbar bis 3.4.2022

Konzert-Stream bis 3. April 2022 verfügbar.

 

»Arbeit und Struktur«, das waren die wichtigsten Faktoren, die Wolfgang Herrndorf während seiner drei Jahre andauernden Tumorerkrankung Halt gaben. In seinem gleichnamigen Blog dokumentierte und kommentierte der Autor des Erfolgsromans »Tschick« seine Erlebnisse und Gedanken über den Tod. Seine digital verfassten letzten Worte, die posthum auch als Buch erschienen, kombiniert das Ensemble Resonanz mit Joseph Haydns Passionsmusik »Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze«. In sieben langsamen und andächtigen Sätzen setzt Haydn die letzten Worte Christi, wie sie in den Evangelien überliefert sind, in ein eindringliches musikalisches Bild. Die Lesung aus Herrndorfs Texten übernimmt die einzigartig intensive Schauspielerin Birgit Minichmayr, die mit ihrer markanten Stimme seit Ende der 90er Jahre am Wiener Burgtheater aktiv ist.

Besetzung

Ensemble Resonanz
Birgit Minichmayr Sprecherin
Dirigent Riccardo Minasi

Programm

Joseph Haydn (1732–1809)
Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze Hob. XX/1A (1787)

Wolfgang Herrndorf (1965–2013)
Arbeit und Struktur (2010–2013)

Letzte Worte :Zum Programm

Letzten Worten wird seit jeher eine besondere Bedeutung beigemessen. Goethe verlangte auf dem Sterbebett nach »mehr Licht«, Kant konstatierte: »Es reicht«, und Beethoven klagte: »Schade, schade, zu spät!« – womit er sich nicht etwa auf ein nun leider unvollendet bleibendes Werk bezog, sondern auf eine soeben eintreffende Lieferung Rheinwein, die er nicht mehr würde entkorken können. Wie auch immer: Oft stehen die »Letzten Worte« so treffend symbolisch für das Leben und Streben einer Person, dass sich die Vermutung aufdrängt, dass sie ihr wohl eher posthum von wohlmeinenden Hinterbliebenen in den Mund gelegt worden seien.

Schon die Bibel macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die sieben letzten Worte, die Christus angeblich am Kreuz sprach, tauchen so in keinem Evangelium auf. Sie stellen vielmehr eine Summe von überlieferten Sätzen einzelner Evangelisten dar. Die Tatsache, dass die letzten Worte Jesu also ganz offensichtlich konstruiert sind, und dass es ausgerechnet derer sieben sind (wie sieben Tage, sieben Todsünden etc.), zeigt überdeutlich, dass es – wie so oft in der Bibel – weniger ums Faktische geht als um das Symbol und die daran geknüpfte theologische Aussage. So verweisen »Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze« auf unterschiedliche Aspekte der christlichen Botschaft: Vergebung, Trost, Erlösung, Transzendenz, aber auch auf das unsägliche irdische Leiden eines gekreuzigten Menschen.

Ein kniffliger Auftrag :Haydns »Sieben letzte Worte«

In der spanischen Hafenstadt Cádiz war mit diesen sieben letzten Worten seit alters her eine besondere Tradition verknüpft. Doch lassen wir den Komponisten Joseph Haydn selbst erzählen: »Im Jahre 1786 bat mich ein Domherr aus Cádiz darum, eine Instrumentalmusik auf ›Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze‹ zu komponieren. Man pflegte damals während der Fastenzeit ein Oratorium aufzuführen, zu dessen Wirkung folgende Umstände beitrugen: Die Wände, Fenster und Pfeiler der Kirche waren mit schwarzem Tuch überzogen, und nur eine in der Mitte hängende große Lampe erleuchtete das heilige Dunkel. Der Bischof bestieg die Kanzel, sprach eines der Sieben Worte aus und stellte eine Betrachtung darüber an. Danach stieg er von der Kanzel herab und fiel knieend vor dem Altar nieder. Diese Pause wurde von Musik ausgefüllt. Der Bischof betrat nun für jedes einzelne Wort die Kanzel, und nach jeder Ansprache spielte das Orchester. Diesen Umständen musste meine Komposition Rechnung tragen. Die Aufgabe, sieben Adagios von je zehn Minuten Dauer aufeinander folgen zu lassen, ohne den Zuhörer zu ermüden, war allerdings keine von den leichtesten.«

Noch heute spürt man die leichte Verzweiflung, die Haydn angesichts dieses kniffligen Auftrags empfunden haben muss – den er freilich glänzend löste. Sogar er selbst gab zu, er halte »diese Arbeit für eine meiner gelungensten«. Die sieben Sätze weisen trotz des einheitlichen Gestus und Tempos eine beeindruckende musikalische Vielfalt auf. Und Haydn vollbringt sogar das Kunststück, den sieben langsamen Sätzen noch eine langsame Einleitung voranzustellen.

Joseph Haydn
Joseph Haydn © Thomas Hardy / Wikimedia Commons

»Die Aufgabe, sieben Adagios von je zehn Minuten Dauer aufeinander folgen zu lassen, ohne den Zuhörer zu ermüden, war keine von den leichtesten.«

Joseph Haydn

Arbeit und Struktur :Wolfgang Herrndorfs letzte Worte

Für das Programm »Letzte Worte« mit dem Ensemble Resonanz werden nun keine Bibelworte gesungen, gesprochen oder gedeutet, wie es Haydn einst für Cádiz vorschwebte. Stattdessen liest die Schauspielerin Birgit Minichmayr die letzten Worte eines Mannes, der sich diesbezüglich an einen Ratschlag von Mark Twain gehalten hat: »Ein Mann, der etwas auf sich hält, sollte seine letzten Worte beizeiten auf einen Zettel schreiben und dazu die Meinung seiner Freunde einholen. Er sollte sich damit keinesfalls erst in seiner letzten Stunde befassen und darauf vertrauen, dass eine geistvolle Eingebung ihn just dann in die Lage versetzt, etwas Brillantes von sich zu geben und mit Größe in die Ewigkeit einzugehen.«

Bei diesem Mann handelt es sich um den Schriftsteller Wolfgang Herrndorf. 1965 in Hamburg geboren, arbeitete er zunächst als Illustrator u.a. für die Zeitschrift Titanic, bevor er 2010 mit dem Jugendroman »Tschick« einen Sensationserfolg landete. Was nur Wenige wussten: Herrndorf war zu diesem Zeitpunkt bereits schwer krebskrank. Ein bösartiger Hirntumor, nicht therapierbar. Seine Gedanken und Erfahrungen im Kampf mit der Krankheit, der Angst vor dem Tod und den Reaktionen seiner Umwelt dokumentierte Herrndorf in einem Blog, der zunächst nur für seine Freunde gedacht war, um nicht alles mehrfach erzählen zu müssen. Doch das Online-Tagebuch wuchs sich bald zu einem veritablen literarischen, öffentlichen Projekt aus und erschien 2013 folgerichtig als Buch. Titel: »Arbeit und Struktur«, jene beiden Faktoren, die Herrndorf während seiner Krankheit Halt gaben.

Übrigens: Die »Sieben letzten Worte« von Joseph Haydn, eingespielt vom Ensemble Resonanz unter der Leitung von Riccardo Minasi, gibt's auch als CD.

Birgit Minichmayr / Ensemble Resonanz Birgit Minichmayr / Ensemble Resonanz © Sophie Wolter
Birgit Minichmayr / Ensemble Resonanz Birgit Minichmayr / Ensemble Resonanz © Sophie Wolter
Ensemble Resonanz Ensemble Resonanz © Sophie Wolter
Birgit MInichmayr / Ensemble Resonanz Birgit MInichmayr / Ensemble Resonanz © Sophie Wolter
Ensemble Resonanz Ensemble Resonanz © Sophie Wolter

Weit entfernt von Selbstmitleid :Die Exitstrategie

Die Texte, die Birgit Minichmayr vorträgt, decken fast die gesamte Zeitspanne von »Arbeit und Struktur« ab. Von Anfang an ist dabei klar, dass Herrndorf nicht auf (Selbst-)Mitleid aus ist. »Was ich brauche, ist eine Exitstrategie«, formuliert er nüchtern im April 2010, kurz nach der verheerenden Diagnose. Für ihn, den Atheisten, liegt die Lösung darin, sich eine Pistole zu besorgen: »Die Gewissheit, es selbst in der Hand zu haben, war von Anfang an notwendiger Bestandteil meiner Psychohygiene.« Am Ende wird er sich diesen Rest von Selbstbestimmtheit erhalten. Im Nachwort heißt es: »Wolfgang Herrndorf hat es gemacht, wie es zu machen ist. Am Montag, 26. August gegen 23:15 Uhr schoss er sich am Ufer des Hohenzollernkanals mit einem Revolver in den Kopf. Er zielte durch den Mund auf das Stammhirn. Das Kaliber der Waffe entsprach etwa 9 mm. Herrndorfs Persönlichkeit hatte sich durch die Krankheit nicht verändert, aber seine Koordination und räumliche Orientierung waren gegen Ende beeinträchtigt. Es dürfte einer der letzten Tage gewesen sein, an denen er noch zu der Tat imstande war.«

Von lebensmüdem Zynismus allerdings ist Wolfgang Herrndorf in seinem Blog – bei allem Frust und Hader – meilenweit entfernt. »Immer die gleichen drei Dinge, die mir den Stecker ziehen: die Freundlichkeit der Welt, die Schönheit der Natur, kleine Kinder«, notiert er einmal. Und er zitiert Schlingensief: »So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein.«

Text: Clemens Matuschek, Stand: 24.03.2021

Wolfgang Herrndorf
Wolfgang Herrndorf © Mathias Mainholz

Gedicht aus »Arbeit und Struktur« :Wolfgang Herrndorf

Wir treffen uns wieder in meinem Paradies

Und Engel gibt es doch

In unseren Herzen lebst du weiter

Einen Sommer noch

Noch eine Runde auf dem Karussell

Ich komm’ als Blümchen wieder

Ich will nicht, dass ihr weint

Im Himmel kann ich Schlitten fahren

Arbeit und Struktur

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