Text: Dominik Bach, April 2025
Das Problem mit der Zeit ist ja nicht neu. Schon Aristoteles brütete über der Frage, wie er dieses Phänomen zu fassen bekäme. Seine Dreiteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheitert letztlich an den fließenden Übergängen der Zeit. Ein Moment, der gerade eben noch Zukunft war, gehört innerhalb eines Wimpernschlags bereits der Vergangenheit an. Die Frage, in welcher Zeit wir leben, ist also alles andere als trivial. Die Elbphilharmonie geht in dieser Saison sogar noch einen Schritt weiter und fragt in ihrem Community-Projekt »Futur X«: Wann ist morgen? Wie sieht dieses Morgen aus? Wie fühlt es sich an? Und wie klingt es?
Auf der Suche nach Antworten entwickeln 85 Menschen aus Hamburg gemeinsam ihre Vision der Zukunft und verleihen ihr künstlerisch Ausdruck. Seit September kommen sie regelmäßig im Kaistudio der Elbphilharmonie und in der Bugenhagenschule in Alsterdorf zusammen, teilen ihre Träume, Wünsche, Sorgen und Ängste, lassen einander an ihrem Leben teilhaben, schließen Freundschaften. Ihre Gefühle gießen sie unter professioneller künstlerischer Anleitung in Musik, in eigene Kompositionen, in Songs, Gedichte und Geschichten, in Bewegungen und in eine gemeinsame Choreografie – immer mit dem Ziel vor Augen, ihren Blick in die Glaskugel im Großen Saal der Elbphilharmonie dem Publikum zu präsentieren.
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Gemeinschaft lernen
Für Evelina Dineva ist es ein ganz besonderes Projekt. Sie nimmt damit Abschied von Hamburg. Im Sommer beginnt für sie ein neuer Lebensabschnitt in den USA. Ihr Mann ist bereits vor vier Jahren mit den beiden Töchtern nach Bloomington, Indiana, übersiedelt. Nur Evelina ist in ihrer Heimatstadt geblieben. Dabei hat es eine Weile gedauert, bis Hamburg ihr Zuhause wurde: Als ihre Eltern in den Achtzigern von Bulgarien nach Hamburg auswandern, ist sie gerade 13 Jahre alt. Ihr Vater arbeitet in der Schiffsbranche, die Hansestadt soll zunächst nur ein Intermezzo sein. Doch die Familie bleibt in Deutschland. Evelina macht Abitur, studiert Mathematik, wendet das Wissen über Zahlen in ihrer Doktorarbeit auf die Neurowissenschaften an und forscht zur kognitiven Entwicklung von Babys und Kindern. Vor allem das Erlernen von Bewegungsabläufen zieht sie in ihren Bann. So sehr, dass sie sich abseits der Theorie zunehmend auch für die Ästhetik von Bewegung interessiert. Sie meldet sich zu Tanz-Projekten an und findet darin einen willkommenen Ausgleich zur Schreibtischarbeit.

Auch bei »Futur X« hat sie sich für den »Dance«-Workshop entschieden. »Die Leute, die hier mitmachen, sind alle aufgeschlossen und haben Lust, etwas Neues zu lernen.« Die gemeinsamen Erfahrungen schweißen zusammen. Eine Übung, bei der alle Teilnehmer sich an den Händen gefasst und zusammen die Luft angehalten haben, ist ihr besonders in Erinnerung geblieben: »Dieses kollektive Innehalten hat sich total gut angefühlt. Ich spürte eine starke Verbundenheit, wir waren eine Schicksalsgemeinschaft.« Und noch ein anderes Bild hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt: Eine Übung experimentierte mit dem Verhältnis von Nähe und Distanz. Denn wenn die Folgen des Klimawandels zukünftig Migrationsbewegungen auslösen, werden Gesellschaften neu über die Ressource Lebensraum verhandeln müssen. »So können wir in unseren Bewegungen Themen ansprechen und ausdrucksstarke Momente kreieren.« Solche Fragen bereiten ihr gerade mit Blick auf die politische Lage in den USA große Sorge. Unterkriegen lässt sie sich davon aber nicht: »Meine Hoffnung ist wirklich die Verbundenheit der Menschen. Wenn wir unsere Ressourcen teilen, anstatt darum zu streiten, können wir viel erreichen«, sagt sie, und hofft, über alle Landesgrenzen hinweg ihren Teil zu einer besseren Gemeinschaft beitragen zu können.
Neues entdecken
Auch Ali Khademi besucht den »Dance«-Workshop – obwohl ihn alle, die ihn kennen, eher in der »Word«-Gruppe vermuten würden. Denn Ali hat als passionierter Schauspieler ein natürliches Faible für Text und Literatur. Der gebürtige Iraner schreibt sogar selbst Gedichte, Theaterstücke und Drehbücher für Kurzfilme; erst kürzlich hat er ein Buch über Improvisationstheater ins Persische übersetzt und im Iran veröffentlicht. Bei »Futur X« will er sich aber neuen Herausforderungen stellen. Raus aus der Komfortzone, rein ins Abenteuer, das war schon immer sein Motto. »Wenn ich mich entscheiden muss, ob ich etwas mache oder nicht, entscheide ich mich dafür. So verpasse ich nichts und muss mir hinterher keine Gedanken machen, was gewesen wäre, wenn ich es nicht doch versucht hätte.«

Die Entscheidung, nach Deutschland zu ziehen, ist auch so ein Fall. Mit 16 Jahren interessiert sich Ali plötzlich für das Land, die Sprache, die Kultur. Er meldet sich zum Sprachkurs an, arbeitet sich in kürzester Zeit durch alle Sprachniveaus und beginnt noch in seiner Geburtsstadt Isfahan ein Germanistik-Studium. 2020 erfüllt er sich dann seinen Traum und zieht nach Hamburg, wo er über das Studienkolleg die Hochschulberechtigung erwirbt und mit einem Studium in Erziehungswissenschaften liebäugelt. Denn die Tätigkeit als Deutschlehrer im Iran hat ihm große Freude bereitet. Doch das Studium ist ihm zu theoretisch, und er beginnt eine Ausbildung, die er in zwei Jahren abschließen wird. Was er danach machen wird, weiß er noch nicht so genau. Ideen hat er genug, Psychologie interessiert ihn, Filmproduktion auch. Gut möglich, dass er eines davon studieren wird. So weit plant Ali aber nicht – wohl wissend, dass er sich im entscheidenden Augenblick auf seine Intuition verlassen kann.

Eigene Wege gehen
Ganz anders Ofelia Maresz. Mit 16 Jahren ist sie die jüngste Teilnehmerin im Community-Projekt, hat aber schon ziemlich genaue Vorstellungen von ihrer Zukunft. Sie möchte Musik studieren, Saxofon ist ihr Instrument. Am liebsten spielt sie Jazz, doch sie hat auch großes Interesse an anderen Genres. Generell versucht sie, so viel wie möglich kennenzulernen und sich von anderen inspirieren zu lassen. Aus diesem Grund hat sie sich für den »Music«-Workshop angemeldet. In den Musiksessions wird improvisiert und mit der eigenen Stimme oder mit Body-Percussion experimentiert. Auch für ihr Saxofon erhält sie neue Impulse: »Ich habe noch nie so mit meinem Instrument gearbeitet. In den Sessions probieren wir vieles aus. Ich habe zum Beispiel nur auf dem Mundstück gespielt oder einfach Luft durch das Instrument geblasen. Da kamen interessante Klänge heraus.«
Neben den musikalischen Ideen genießt sie vor allem den Austausch mit anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Denn in ihrem Freundes- und Familienkreis ist Ofelia häufig die Ausnahme. Sie interessiert sich für Politik und Gesellschaft, kann sich in ihrem Umfeld aber nur mit wenigen Menschen darüber unterhalten, auch weil das Konfliktpotenzial recht hoch ist. So sieht sie beispielsweise die Auswirkungen von vermeintlich sozialen Medien auf die Gesellschaft äußerst kritisch und weicht in diesem Punkt deutlich von den meisten in ihrem Umfeld ab. Ihr erstes Handy hat sie mit 14 Jahren bekommen, davor wollte sie keines. »Wenn ich unterwegs bin, sind so viele Menschen nur auf ihr Smartphone fixiert. Manchmal habe ich das Gefühl, ich muss aufstehen und schreien. Dann spüre ich eine richtige Wut, dass sich die Gesellschaft so entwickelt. Das frustriert mich wirklich.« Denn ein Austausch sei so nicht möglich.
Ganz anders beim Community-Projekt: »Jeder lässt jeden aussprechen und ist offen für verschiedene Meinungen.« Ofelia ist froh, hier Gleichgesinnte gefunden zu haben, mit denen sie auch über große Themen wie den Klimaschutz oder das globale Erstarken autoritärer Regierungen reden kann. »Ich würde gerne einiges verändern, weiß aber auch, dass meine Möglichkeiten als Einzelne begrenzt sind. Deshalb ist es schön zu sehen, dass ich nicht allein dastehe.« Einige Teilnehmer haben sich sogar zu einer Gruppe zusammengeschlossen und wollen in Zukunft regelmäßig auf Demonstrationen gehen. Vielleicht schließt sich Ofelia einmal an, es wäre für sie eine Premiere. Denn sie ist überzeugt: »Sich mit der Zukunft zu befassen und seinen Themen eine Stimme zu geben, ist ein wichtiger Schritt.«

In der Abschluss-Performance von »Futur X« werden alle, die dabei waren, genau das tun: Mit Musik, Text und Bewegung bringen sie ihre Visionen der Zukunft, ihre Träume, Wünsche und Sorgen unmittelbar zum Ausdruck. Was genau zu sehen und zu hören sein wird, bleibt bis zum Schluss das wohlgehütete Geheimnis der Community. Doch vielleicht steht am Ende ja tatsächlich eine Antwort auf die Frage: »Wann ist morgen?«
Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 2/25).
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- Elbphilharmonie Großer Saal
Abschlussperformance des Community-Projekts / Internationales Musikfest Hamburg