Alan Gilbert

Alan Gilbert: »Es ist uns wirklich ernst damit«

Der Dirigent Alan Gilbert über seine Liebe zur zeitgenössischen Musik.

Für ihn gibt es keine Grenze zwischen alter und neuer Musik: »Es ist alles Teil eines zusammenhängenden Ganzen«, erklärt Alan Gilbert, dem die Auseinandersetzung mit modernen Kompositionen eine echte Herzensangelegenheit ist. Als Chefdirigent vom NDR Elbphilharmonie Orchester überrascht er sein Hamburger Publikum immer wieder mit faszinierenden Klängen der Gegenwart.

Zeitgenössische Musik spielte in Ihrer Laufbahn als Dirigent immer schon eine wichtige Rolle, stand stets gleichberechtigt neben den Werken des klassischen Kanons. Warum eigentlich?

Als ausführende Musiker können wir Teil davon sein, wenn Musikgeschichte weitergeschrieben wird! Natürlich ist nicht jede neue Komposition ein Meisterwerk, man weiß nie, was einen erwartet. Das war aber noch nie anders: Wie viele Werke aus der Zeit Mozarts oder Beethovens werden heute nicht mehr gespielt? Sicher tausende, weil sie aus irgendwelchen Gründen die Zeit nicht überdauert haben. Und heute kommt uns – den Musikern und dem Publikum – diese Aufgabe zu, gemeinsam das nächste Kapitel zu schreiben: die Musik unserer Zeit zu spielen, zu hören, immer auf der Suche nach Werken, die bleiben werden.

Welcher Anspruch, welche Haltung verbirgt sich dahinter?

Über die letzten Jahre hatte ich bei Konzerten mit Neuer Musik immer wieder ein komisches Gefühl. Klar, da ist viel passiert; aktuelle Musik taucht verstärkt auf den Programmen der Orchester auf. Aber manchmal hatte ich den Eindruck, dass es nur eine Art Feigenblatt ist: mal ein neues Werk, das mit Beethoven flankiert wird, oder an einem ausgefallenen Konzertort. Das klang immer ein bisschen nach: »Ja, wir kümmern uns – aber eigentlich spielen wir Brahms-Sinfonien in einem großen Konzertsaal.« Ich bin der Überzeugung, dass wir nicht nur die Werke der alten Meister wertschätzen sollten, sondern immer auch das, was unsere Zeitgenossen erschaffen. Das ist doch schließlich der Spiegel unserer Gegenwart und ich finde, wir sollten zeigen: Es ist uns wirklich ernst damit.

Alan Gilbert Alan Gilbert © Peter Hundert

»Man braucht einen Blickwinkel, aus dem heraus man ein Werk betrachtet, einen sicheren Stand.«

Alan Gilbert

Was sind die besonderen Herausforderungen?

Man braucht einen Blickwinkel, aus dem heraus man ein Werk betrachtet, einen sicheren Stand. Das ist ja das Schwierige bei zeitgenössischer Musik, weil jedes Stück eine andere Sprache spricht. Wenn ich hingegen in ein Konzert mit einer Mozart-Sinfonie gehe, selbst wenn ich die vorher noch nie gehört habe, bin ich vertraut mit der Sprache und finde dadurch Zugang zu dieser Welt.

Alles, was heute komponiert wird, ist ein Spiegel unserer Gesellschaft. Und genauso divers, wie wir Menschen und unsere Welt es sind, ist auch die Musik, die heutzutage entsteht. Die Vielfalt an Stilen ist so groß, dass wir sie unmöglich verallgemeinern können. Das hat den Vorteil, dass jeder seinen eigenen Zugang zur Neuen Musik finden kann, zu der Musik, die zu ihm oder ihr spricht. Es kann ja auch aufregend sein, etwas völlig Neues für sich zu entdecken, Dinge, die die eigene Vorstellung von Musik übersteigen. Was wir tun können, ist genau diese Vielfalt abzubilden – wie in einem Museum: Man betritt einen Raum voller Gemälde, und manche davon packen uns mehr als andere.

Alan Gilbert Alan Gilbert © Peter Hundert

»Ich finde es gut, dass es heute wieder okay ist, wenn Musik ›schön‹ ist und unser Herz berührt.«

Alan Gilbert

Gibt es trotz des Stilpluralismus etwas, was die Musik unserer Zeit ausmacht? Was ist da gerade State of the Art?

In den letzten, sagen wir 15 Jahren gab es einen fundamentalen Umbruch im Vergleich zu dem, was in der Mitte des 20. Jahrhunderts passiert ist. Im Englischen gibt es den Ausspruch »Children should be seen and not heard« – analog dazu war das für mich eine Zeit des »Music should be seen and not heard«-Komponierens. Die Neue Musik war damals sehr dogmatisch, wollte intellektuell sein und legte keinen Wert auf das Publikum. Im Gegenteil, Gefälligkeit wurde geradezu zu einem Stigma. Diese strengen Dogmen gibt es längst nicht mehr.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin durchaus interessiert an dem, was in den 1950er und 60er Jahren passiert ist. Vielleicht war es sogar ein notwendiger Schritt, zu zeigen, dass Musik nicht nur orgiastisches Gefühl im Sinne der Spätromantik ist, sondern auch einen intellektuellen Anspruch formulieren soll. Aber ich finde es gut, dass es heute wieder okay ist, wenn Musik »schön« ist und unser Herz berührt. Das eine schließt das andere nicht mehr aus: Es gibt Strömungen unter den Komponisten, die mit ungewöhnlichen Klängen experimentieren, die neue Wege gehen, und gleichzeitig gibt es die etwas populäreren Vertreter, die wir deswegen nicht geringschätzen dürfen.

Für einen Überblick über die Geschichte der Neuen Musik hier weiterlesen.

Video: Alan Gilbert über die Elbphilharmonie

Sie dirigieren regelmäßig auch Uraufführungen neuer Kompositionen. Nutzen Sie in einem solchen Fall die Möglichkeit zum Austausch mit dem Komponisten oder erarbeiten Sie sich Ihre Interpretation allein?

Letztlich muss ich zu einer eigenen Sicht und Aussage finden. Aber natürlich finde ich es spannend zu wissen, was die Komponistin oder der Komponist beabsichtigt. Das ist ja das Problem mit Noten, sie sind in ihrer Aussagekraft begrenzt. Wenn ich zum Beispiel in eine Beethoven-Partitur schaue, vermute ich eine bestimmte Aussage, die auch durch die Tradition bestimmt ist. Niemand weiß, ob sie »richtig« oder »falsch« ist – so ist das eben mit der Kunst. Bei einem neuen Werk aber gibt es diese Tradition nicht, dafür kann ich den Komponisten selbst fragen. Allerdings bin ich ein bisschen argwöhnisch, wenn Tonschöpfer eine ganz klare Meinung davon haben, wie ihr Stück zu funktionieren hat, eine Art endgültiger Antwort. Wenn ein Komponist zu klar festlegt, wie sein Werk gespielt werden soll, nimmt man den Musikern die Freiheit der Interpretation und dem Werk damit die Möglichkeit, für sich selbst zu sprechen. Oft stecken Dinge in einem Komponisten, deren er oder sie sich selbst gar nicht bewusst ist.

Alan Gilbert Alan Gilbert © Peter Hundert

»Um ihre Repertoirefähigkeit beweisen zu können, müssen Werke erst einmal gespielt werden – und das ist unsere Verantwortung als Veranstalter und Musiker«

Alan Gilbert

Spüren Sie bei Uraufführungen eine besondere Verantwortung, weil Sie als Dirigent am Erfolg oder Misserfolg eines Werks beteiligt sind?

Wir Interpreten versuchen natürlich, unser Bestes zu geben. Mehr können wir nicht tun. Das trifft jedoch auch zu, wenn wir ein Stück spielen, das 200 Jahre alt ist. Der einzige Unterschied ist, dass wir nicht genau wissen, was uns erwartet, dass wir erst einmal eine spezifische Sprache für das Werk finden müssen. Und es gibt keine Referenzen, man kann es also nicht mit vorherigen Aufführungen vergleichen – was den Druck aber auch verringern kann, der auf den Musikern lastet. Natürlich will niemand schuld daran sein, dass ein neues Werk nicht gelingt, das Risiko müssen wir aber eingehen. Das gilt für beide Seiten: Als Komponist und als Künstler müssen wir lernen, dass wir zwar unser Möglichstes tun, es aber dann nicht mehr in unserer Hand liegt. Wenn eine Uraufführung einmal kein Erfolg ist, heißt das auch nicht zwangsläufig, dass ein Werk nicht populär wird. Die Musikgeschichte ist voll mit Beispielen, bei denen die Premiere total verunglückte und die Werke hinterher trotzdem ein großer Erfolg wurden.

Oft ist es aber auch andersrum: Mit großem Aufwand wird eine pompöse Uraufführung gefeiert, weil das für Aufmerksamkeit sorgt und die internationale Fachpresse berichtet – doch dann werden viele Stücke nicht nachgespielt, weil dabei eben diese Aufmerksamkeit fehlt.

Auf der einen Seite ist das nachvollziehbar, auf der anderen aber ein echtes Problem. Ich versuche daher, neue Werke mindestens zwei Mal, wann immer möglich sogar öfter zu dirigieren. Was hier passiert, ist eine Art darwinsche Auslese, welche die Stücke des Repertoires bereits durchlaufen haben. Sie haben sich diesen Status sozusagen verdient. Aber um ihre Repertoirefähigkeit beweisen zu können, müssen Werke erst einmal gespielt werden – und das ist unsere Verantwortung als Veranstalter und Musiker.

 

Magazin »Visionen« liegt auf einem Flügel
Magazin »Visionen« liegt auf einem Flügel © Philipp Seliger

Dies ist ein Artikel aus dem Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 01/2021), das drei Mal pro Jahr erscheint.

Sehen Sie die Elbphilharmonie und das NDR Elbphilharmonie Orchester da in einer besonderen Verantwortung?

Ja, denn die Neue Musik ist eine der Kernkompetenzen von Rundfunkorchestern und außerdem Teil ihres Bildungsauftrags. Das resultiert aus ihrer Tradition, denn ursprünglich wurden die Rundfunkorchester gegründet, um Inhalt für das eigene Radioprogramm zu produzieren. Dazu gehörte es, Musik aufzuführen und einzuspielen, die vorher noch nicht gespielt wurde. Es ist also kein Zufall, sondern eine organisch gewachsene Struktur. Deutschland verfügt mit seinen vielen Rundfunkorchestern über einen weltweit einzigartigen kulturellen Reichtum, der wesentlich ist für eine Gesellschaft und den wir unbedingt erhalten müssen. Gerade in der Situation mit der Corona-Pandemie war und ist das Radio mit seinen Orchestern eine Möglichkeit, Musik zu den Menschen zu bringen.

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