György Ligeti

György Ligeti: Lust am Spiel

In seiner Musik gelang dem ungarischen Komponisten etwas Seltenes.

Anfang der fortschrittsvernarrten Sechzigerjahre hielt der Komponist György Ligeti vor illustrem Publikum aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft einen Vortrag über die Zukunft der Musik. Er hatte zehn Minuten Redezeit – und sagte kein einziges Wort. Damals war das ein kleiner Skandal, es gab wütende Protestrufe, nach acht Minuten wurde Ligeti vom Pult gedrängt.

Aus heutiger Sicht wirkt die Aktion eher wie eine Anekdote – die gleichwohl viel über diesen Mann erzählt: als sinnlich denkenden Künstler, der für einen zwingenden Gedanken, eine bestechende Idee punktgenau die wirkungsvollste Form findet; und als redlichen Intellektuellen, der zwar kundig und eloquent über komplexeste Materien aus Kompositionstheorie, Philosophie, Physik, Mathematik sprechen, aber eben auch schweigen konnte, wo er wusste, dass er nichts weiß, nichts wissen kann.

Dies ist ein Auszug aus dem Artikel »Lust am Spiel« aus dem Elbphilharmonie Magazin (02/2019), das drei Mal pro Jahr erscheint. Hier die aktuelle Ausgabe bestellen

Ein Blinder im Labyrinth

Und noch etwas bezeugt diese Anekdote, nämlich Ligetis immerwährende Offenheit: Nicht einmal auf seine eigene musikalische Zukunft wollte er sich festlegen. »Ich versuche, immer neue Dinge auszuprobieren«, sagte er viel später einmal. »Ich bin wie ein Blinder im Labyrinth, der sich herumtastet, immer neue Eingänge findet und in Zimmer kommt, von denen er gar nicht wusste, dass sie existieren. Und dann tut er etwas. Und er weiß gar nicht, was der nächste Schritt sein wird.«

György Ligeti
György Ligeti © Kimmo Mántylá

Stil-Los

»Ich bin wie ein Blinder im Labyrinth, der sich herumtastet und in Zimmer kommt, von denen er gar nicht wusste, dass sie existieren.«

György Ligeti

Stilistisch ist dieser Komponist denn auch kaum einzuordnen. Zu vielfältig ist sein Werk, zu abwechslungsreich sind seine Mittel des Ausdrucks, zu unterschiedlich die Blickwinkel, aus denen er die Musik betrachtete, und die Fragen, die ihn dabei beschäftigten; zu breit auch sein Interesse an der Welt außerhalb der Musik, aus der er immer wieder Anregung für sein Schaffen zog.

Das Schöne, das Besondere dabei: Mit jedem der mehr als hundert Werke, die er am Ende seines Lebens gelten ließ, blieb Ligeti stets sich selbst, seiner Identität als Künstler treu. Ganz wörtlich im ursprünglichen Sinn dieses Wortes: Identität ist, was zwischen verschiedenen Dingen oder Verhältnissen dasselbe bleibt.

György Ligeti: Poème Symphonique for 100 Metronomes

DAS GEFÜHL DER GEFÄHRDUNG

Über Persönliches, Privates gar sprach György Ligeti in etwa so gern wie über die Zukunft der Musik. 1923 geboren als Kind ungarisch-jüdischer Eltern im damals rumänischen Siebenbürgen, wurde dem 18-Jährigen aufgrund seiner Herkunft das geplante Physikstudium verwehrt (was ihn überhaupt erst ans Musikkonservatorium in Klausenburg/Cluj brachte). Vater und Bruder starben im Konzentrationslager, die Mutter überlebte Auschwitz. Er selbst wurde 1944 zum Arbeitsdienst in der faschistischen ungarischen Armee gezwungen, geriet in sowjetische Gefangenschaft und konnte während eines Bombenangriffs aus dem Lager fliehen.

Schlupfloch Volksmusik

Nach Kriegsende setzte Ligeti sein Musikstudium in Budapest fort und arbeitete als Feldforscher für rumänische Volksmusik. Seine Faszination dafür war bereits durch eine frühe Begegnung mit der Musik Béla Bartóks geweckt; nach der kommunistischen Machtergreifung 1948 bot sie ihm auch eine Möglichkeit zum Widerstand gegen das repressive politische System: Während alle neue Musik ab Claude Debussy verboten war, galt die Folklore in der Ideologie des sozialistischen Realismus als tolerabel. Also komponierte Ligeti pseudofolkloristische Werke, von denen einige tatsächlich ihren Weg durch die Zensur fanden – die meisten allerdings wurden wegen »pubertärer Aufsässigkeit« oder »zu vieler Dissonanzen« verboten.

Der zunehmenden geistigen Enge im kommunistischen Ungarn entkam Ligeti nach dem gescheiterten Volksaufstand 1956 wiederum durch Flucht – zu Fuß, über die Grenze nach Österreich. Und dort stürzte er sich auf all das, was er daheim nicht kennenlernen durfte: die verbotenen Werke Bartóks und Igor Strawinskys und die der »noch viel verboteneren« Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg.

György Ligeti
György Ligeti © Peter Andersen/Schott

In einem der letzten Interviews, das er vor seinem Tod 2006 gab, wurde Ligeti gefragt, inwiefern die gefahrenreichen Jugendjahre seine Musik beeinflusst hätten. Die Antwort fiel knapp aus: »Unter den Nazis und den Kommunisten hatte ich ein Leben voller Risiken. Wichtig war das für mich nicht. Aber so habe ich gelebt.« Näheres mochte er nicht erläutern, nur so viel deutete er an: »Das Gefühl der Gefährdung bleibt.« Und ja, es schlage sich wohl auch in künstlerischer Radikalität nieder.

KOMPROMISSLOS INDIVIDUELL

Künstlerisch radikal war Ligeti vor allem in seinem kompromisslosen Individualismus, mit dem er sich Zeit seines Lebens abseits aller ästhetischen Moden und Schulen stellte. Jeder Dogmatismus, jeder Absolutismus sei ihm zuwider, erklärte er seine Distanz gerade gegenüber der Nachkriegsavantgarde mit ihrer oft apodiktisch anmutenden Unerbittlichkeit.

Schon bald nach seiner Ankunft im Westen stand er in – durchaus freundlichem und gegenseitig anregendem – Kontakt mit deren wichtigsten Vertretern, mit Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Luigi Nono. Doch inhaltlich integrierte er sich nie in diesen Kreis. Und er konnte seine kritische Position argumentieren: Die in Darmstadt propagierte serielle Kompositionstechnik mit ihrem Ziel, alle musikalischen Parameter zu determinieren, sei zu theoretisch, zu strukturell gedacht, befand Ligeti, und sie führe in letzter Konsequenz zu Konturlosigkeit und Verwechselbarkeit.

György Ligeti
György Ligeti © CoBroerse

»Unter den Nazis und den Kommunisten hatte ich ein Leben voller Risiken. Wichtig war das für mich nicht. Das Gefühl der Gefährdung bleibt.«

György Ligeti

Klang-Hypnose

Ligeti selbst arbeitete an seinem eigenen Weg, der traditionellen Funktionsharmonik etwas ganz und gar Neues entgegenzusetzen: Musik von solcher Dichte der Einzelstimmen (»Mikropolyphonie«), dass sie die Unterscheidung von Melodie, Harmonie und Rhythmus auflöst. Klangfarbe und Dynamik allein bestimmen das Geschehen, die Einzelstimmen werden mit ihren kleinteiligen Ereignissen ununterscheidbar und verschmelzen zu einem kontinuierlichen Gesamtklang, der sich ständig wandelt, durch den Raum bewegt – und sogar den hypnotischen Eindruck von Stillstand erwecken kann.

Ligeti: Atmosphères

»Ich bin ein antiideologischer Mensch. Ich möchte mich nicht einspannen lassen, weder von Ideologien noch von Gruppen.«

György Ligeti

Klingende Flächen

Klangflächenkomposition wurde diese Technik bald genannt. Ligeti wandte sie auf großes Orchester an (»Atmosphères«, 1961), auf Orgel (»Volumina«, 1962) und auf menschliche Stimmen (»Requiem«, 1965) – und er hatte überwältigenden Erfolg damit. Als Stanley Kubrick 1968 dann auch noch Teile aus dem »Requiem« und aus »Atmosphères« für seinen Film »2001: Odyssee im Weltraum« einsetzte, erreichte Ligetis Musik ein so breites Publikum, dass sogar die Fernsehzeitschrift »Hörzu« ein ganzseitiges Portrait über den Komponisten brachte. (Das Honorar für den unfreiwilligen Soundtrack musste er allerdings einklagen.)

2001: Odyssee im Weltraum :Ausschnitt aus Ligetis »Requiem«

GRELL, PRALL, GROTESK

Schon in diesen frühen Werken werden jene seltenen Qualitäten Ligetis deutlich, die alle seine Musik auszeichnen: die Lust am Spiel wie an der Komplexität, strukturelle Klarheit, stupende Virtuosität, intellektuelle Schärfe, Freiheit im Denken, Experimentierfreude, Witz und – vielleicht vor allem anderen – Zugänglichkeit. Ligeti hatte, anders als so viele Avantgardisten der Nachkriegszeit, keine Scheu vor der sinnlichen Wirkung von Musik.

Das blieb auch so, als sich der Reiz der Klangflächenkomposition für ihn erschöpft hatte. Ligeti wandte sich nun phonetischen Experimenten zu. Für die hoch virtuosen Mimodramen »Aventures / Nouvelles Aventures« (1962-65) komponierte er eine imaginäre Nonsens-Sprache aus artikulierten Lauten und Modulationen.

Ligeti: Nouvelles Aventures

Überhaupt finden sich immer wieder Groteske und Ironie in seiner Musik, am prägnantesten wohl in einer Satire auf John Cages Klavierstück »4' 33"«, bei dem vier Minuten und 33 Sekunden lang gar nichts passiert – und auf das Ligeti mit einem konsequenten »0' 00"« reagierte.

Anti-Anti-Oper

Den größten Spaß, die opulenteste Groteske, die bissigste Ironie aber gönnte sich Ligeti 1978 mit seiner einzigen Oper: »Le Grand Macabre« spielt in der apokalyptischen Szenerie eines imaginierten Breughel-Landes, bevölkert von bizarr-dekadenten, hoffnungslos überforderten und doch irgendwie lebensbejahenden Figuren. Nichts funktioniert hier, nicht einmal der groß angekündigte Weltuntergang: Er geht in Suff und Sex und Schwadronieren einfach unter – und das Leben weiter wie bisher.

»Le Grand Macabre« in der Elbphilharmonie
»Le Grand Macabre« in der Elbphilharmonie © Doug Fitch

In Anspielung auf Boulez’ flammendes Plädoyer für die »Anti-Oper« (»Sprengt die Opernhäuser in die Luft«), nannte Ligeti sein Stück eine »Anti-Anti-Oper« – und schöpfte im traditionellen Rahmen des Formats musikalisch aus dem Vollen seines Könnens: Klangflächen, Reihenstrukturen, trickfilmmusikartige Elemente und das legendär gewordene Vorspiel eines Ensembles aus Autohupen machen »Le Grand Macabre« zu einer grell-prallen Revue des menschlichen Irrsinns.

Wie Ligeti aus einer tiefen Schaffenskrise fand und was ihn mit Kafka, afrikanischen Aka-Pygmäen und Chaosforschung verbindet, lesen Sie im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 02/2019).

Text: Carsten Fastner, Stand: 18.04.2019

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