Thomas Adès

Thomas Adès: Allrounder mit Tiefgang

Der englische Komponist, Dirigent und Pianist will Menschen erreichen. Es gelingt ihm.

Wer durch die Gänge und Hallen der altehrwürdigen Londoner National Portrait Gallery schlendert, der begegnet auf Schritt und Tritt Persönlichkeiten der englischen Geschichte. Das vermutlich erste Shakespeare-Portrait hängt hier. Aber natürlich sind neben all den Lichtgestalten aus Wissenschaft, Kultur und Politik auch nahezu sämtliche Royals prächtig gerahmt zu sehen. 2002 musste man an den Ausstellungswänden wieder Platz schaffen für einen Neuzugang. Denn nun bekam Thomas Adès in Öl die musealen Weihen.

Doch statt sich dafür in klassischer Position von Phil Hale malen zu lassen, hatte sich Adès in einen weißen, zerknitterten Anzug geworfen und sich wie ein vom Schmerz Gezeichneter in einen Armstuhl gelegt. 31 Jahre alt war das Modell Adès zu dem Zeitpunkt und längst einer der meistgespielten und hochdekoriertesten Komponisten der Gegenwart. Sein angeborenes Faible fürs Extravagante, mit dem er sich schon als Musikstudent dandylike inszeniert hatte, kam vor der Staffelei zumindest jetzt noch einmal zum Vorschein.

Thomas Adès
Thomas Adès © Mathias Benguigui

Lust an der Verwandlung

Der musikalischen Lust an der Verwandlung ist Adès hingegen seit nunmehr rund drei Jahrzehnten treu. Klassik und Jazz, Atonalität und Dreiklang-Harmonie, Anleihen aus dem Blues und der Barockmusik, Flirts mit Tango und Variété – aus diesem Vielklang setzt sich sein bisheriges Schaffen zusammen. Und dass sich unter seinen kleineren Stücken sogar die Bearbeitung des Hits »Cardiac Arrest« der englischen Ska-Band Madness findet, spricht Bände über seine musikalische Beweglichkeit. Adès’ Credo, dass »niemand das letzte Wort« habe, ist daher denn auch als kleine Spitze gegenüber all den Avantgarde-Hardlinern gemeint, für die es nur eine musikalisch »richtige« Gegenwart und Zukunft gibt.

»Klassik und Jazz, Atonalität und Dreiklang-Harmonie, Anleihen aus Blues und Barock, Flirts mit Tango und Variété«

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Thomas Adès

Thomas Adès
Thomas Adès Thomas Adès © Marco Borggreve

Weg ohne Gesetzestafeln

Wer sich somit von jeher den in Gesetzestafeln gemeißelten Ritualen und Gepflogenheiten der Neue-Musik-Szene konsequent verweigert, der ist denn auch zu den einschlägigen Festivals und Insider-Treffen nie eingeladen worden. Was Adès nie juckte. Schließlich hat der gebürtige Londoner und Sohn eines Sprachwissenschaftlers und einer Kunsthistorikerin seinen Weg auch so gemacht. Um sein Opus 1, für das er als 18-jähriger Student Gedichte von T.S. Eliot vertonte, rissen sich 1989 gleich drei Verlage. Prompt wurde Thomas Adès als neuer Wunderknabe gehandelt, der zudem auch noch beneidenswert gut Klavier spielen konnte.

»... und dann ging die Karriere nur noch steil nach oben«

Nach seinem natürlich mit Bestnoten abgeschlossenen Musik- und Kompositionsstudium an der Londoner Guildhall School of Music und am King's College in Cambridge ging es für Adès und seine Karriere dann nur noch steil nach oben. 1993 wurde er fester Komponist des renommierten Hallé Orchestra. Und zwei Jahre später gelang ihm gleich mit seiner ersten Oper »Powder Her Face« ein Welthit. Was nicht nur an der buntgemixten Musik mit ihren auch Kurt-Weill-artigen Songs und einem herrlich sentimentalen Orchester-Melos lag, sondern auch an der schlüpfrigen Story um eine gewisse Herzogin von Argyll.

Thomas Adès: Asyla, III. Ecstasio (Sir Simon Rattle / London Symphony Orchestra)

»Musik zu schreiben und zu spielen, ist völlig surreal. Man ist eine Art Bilderhauer der Luft, die einem die völlige Freiheit gibt, das zu tun, was man will.«

Thomas Adès

Bevor Adès aber dann sogar den akademischen Thron erklimmen sollte, mit der Berufung auf den Benjamin-Britten-Lehrstuhl für Komposition an der Londoner Royal Academy of Music, kam es zur ersten Begegnung mit Simon Rattle. Im Auftrag Rattles schrieb Adès 1997 für das City of Birmingham Symphony Orchestra das Orchesterstück »Asyla«, das mit seiner pochenden Rhythmik, mit all den skurrilen Geräuscherfindungen (Stichwort: raschelndes Säckchen voller Silber-Besteck), schrägen Vierteltönen und Infusionen sogar aus der House-Musik schnell auf riesige Resonanz stieß. Und nachdem Adès 2000 für »Asyla« den mit 200.000 Dollar dotierten Grawemeyer-Preis verliehen bekam, schaffte er zwei Jahre später mit dem Stück endgültig seinen Durchbruch auch in Deutschland. Für sein erstes Konzert als neuer Chefdirigent der Berliner Philharmoniker hatte Simon Rattle Mahlers 5. Sinfonie und eben »Asyla« ausgewählt.

Thomas Adès: Konzert für Klavier und Orchester

Musik mit Blut und Emotion

Obwohl seine Werke mittlerweile von nahezu allen großen Top-Orchestern gespielt werden, ist jede Aufführung auch für den Dirigenten Adès dennoch weiterhin ein Abenteuer geblieben, auf das er regelrecht hinfiebert. Denn immer noch ist jedes Konzert für ihn »wie Weihnachten«: »Es ist so seltsam. Es ist das, was du in deinem Kopf hattest, aber es ist völlig anders, wenn du es hörst.«

Diesen sinnlichen Moment des Wunderns und des Staunens kennt er aber nicht nur von seinen eigenen Werken her. Solch einen Moment erlebte er auch bei der allerersten Begegnung mit einer Musik, die sein Bild von der Moderne für immer prägte. Mit 15, 16 Jahren hörte er durch Zufall eine Schallplattenaufnahme mit der Musik des großen ungarischen Komponisten György Kurtág. Und wenngleich ihm diese Musik fremd war, »erkannte ich direkt, dass Blut durch sie strömte. Sie war emotional – was ich nicht von vielen Zeitgenossen Kurtágs her kannte.«

Dass Kurtág bis heute einer von Adès’ absoluten Helden geblieben ist, hört man ebenfalls den jüngeren und jüngsten Kompositionen an. Denn ob es etwa das für den Pianisten Kirill Gerstein geschriebene Klavierkonzert mit seinen Anlehnungen auch an Maurice Ravel ist oder das Cello-Werk »Lieux retrouvés«, in das sich Liszt und Offenbach geisterhaft hineingeschlichen haben – aus ihnen spricht stets Adès’ Wunsch, »das Publikum direkt zu erreichen.« Und: Es funktioniert!

Text: Guido Fischer, Stand: 29.4.2020

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