Kevin Bowyer

Orgeln am Limit: Das Sorabji-Projekt

Kevin Bowyer bezwingt das größte Monstrum der Orgelmusik: die achtstündige Orgelsinfonie des Komponisten Kaikhosru Shapurji Sorabji.

Achteinhalb Stunden Spieldauer.
300 A3-Seiten Notenpartitur.
Schwierigkeitsgrad: unspielbar.

Wer sich die Orgelwerke des parsisch-britischen Komponisten Kaikhosru Shapurji Sorabji freiwillig vornimmt, ist entweder wahnsinnig oder wahnsinnig gut. Definitiv letzteres trifft auf den britischen Organisten Kevin Bowyer zu: Er bezwingt Werke, an die sich kein anderer je gewagt hat; Endgegner des Repertoires sozusagen.

Kein Wunder also, dass ihn die Kompositionen des 1892 geborenen Sorabji magisch anziehen. Nicht nur spieltechnisch gehören sie mit Abstand zum Schwersten, was je für Orgel komponiert wurde. Auch ihre gigantischen Ausmaße sprengen jedes klassische Konzertformat. In der Elbphilharmonie bot sich im September 2019 die einmalige Gelegenheit, Sorabjis achtstündige Zweite Orgelsinfonie mit Bowyer an den Tasten, Pedalen und Manualen zu erleben. Ein XXL-Sounderlebnis in zwei Teilen – wie gemacht für die Elbphilharmonie-Orgel mit ihren enormen technischen und klanglichen Möglichkeiten.

Im Interview spricht Kevin Bowyer über den Probenalltag zwischen Faszination und Kapitulation, über die persönliche Begegnung mit dem Komponisten und warum es sich lohnt, achteinhalb Stunden auf den letzten Akkord zu warten.

Das Sorabji-Projekt in der Elbphilharmonie

Am 15. September 2019 spielte Kevin Bowyer Sorabjis Zweite Orgelsinfonie in der Elbphilharmonie.

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»Neben Sorabjis Orgelsinfonien sehen andere berüchtigte zeitgenössische Werke aus wie Fingerübungen.«

Kevin Bowyer

Kurzbiografien

Das Sorabji-Projekt: Kevin Bowyer im Interview

Die Werke von Kaikhosru Shapurji Sorabji begleiten Sie schon eine ganze Weile – wie haben Sie den Komponisten für sich entdeckt?

Ich erinnere mich noch genau an den Tag. Es war im November 1979, ich war Student an der Royal Academy of Music in London. Orgelmusik war meine große Leidenschaft und so suchte ich in der Bibliothek nach neuen Stücken. Als ich ganz hinten am Fenster stand, entdeckte ich im obersten Regal ein dickes rotes Notenbuch – es war eine 1925 veröffentlichte Ausgabe von Sorabjis Erster Orgelsinfonie – dem »Baby«, sie dauert nur zwei Stunden. Ich blätterte sie durch und war fasziniert, wie komplex alles aussah. Neben den allerletzten Akkord hatte jemand per Hand geschrieben: »Hierfür braucht man vier Hände« ­– gefolgt von sechs Ausrufezeichen. Ab da wusste ich: Das will ich spielen. Seit diesem Tag ist Sorabji Teil meines Lebens.

Später wagten Sie sich dann an die Zweite Orgelsinfonie, hiervon gab es aber noch kein rotes Buch?

Nein, die zweite Orgelsinfonie gab es nur im Original-Manuskript. Nur die frühen Werke von Sorabji wurden verlegt, die zweite Orgelsinfonie von 1932 gehörte da schon nicht mehr dazu. Das Manuskript besteht aus 300 A3-Seiten, ich habe es händisch übertragen und erst später richtig gesetzt. Es gibt viele Gründe, wieso man diese Sinfonie nicht vom Manuskript spielen kann. Es ist nicht alles sauber notiert, es gibt viele tausend Probleme, die man lösen muss, bevor man überhaupt beginnen kann, das Werk zu proben: Mehrdeutigkeiten in der Handschrift, Fehler im Rhythmus, Passagen, die physisch kaum oder gar nicht spielbar sind und für die man sich etwas einfallen lassen muss.

Kaikhosru Shapurji Sorabji
Kaikhosru Shapurji Sorabji © The Sorabji Archive

Sie waren der Erste, der sich an diese Arbeit wagte. Wieso wurde das Werk davor nicht beachtet?

Es gibt die Erzählung, dass Sorabji entschieden haben soll, dass niemand seine Stücke spielen darf. Ganz so strikt war das nicht, aber es führte dazu, dass zwischen 1936 und 1970 niemand seine Musik spielte. In den Siebzigern lagen die Orgelsinfonien schon weit zurück, ich glaube, er hatte sie fast vergessen. Sorabji war nie sonderlich daran interessiert, dass seine Werke gespielt werden. Es waren die Musiker, die zu ihm kamen und gefragt haben: Kann ich das spielen? Und als junger Musiker war auch ich verrückt genug, das zu tun.

Auszug aus dem Manuskript von Kaikhosru Sorabjis Zweiter Orgelsinfonie
Auszug aus dem Manuskript von Kaikhosru Sorabjis Zweiter Orgelsinfonie © The Sorabji Archive

Sie haben Sorabji auch persönlich getroffen?

Ja, im dem Jahr, als er gestorben ist, 1988. Er wohnte im Altenheim in Winfrith Newburgh an der englischen Südküste und ich besuchte ihn dort einige Male, zuletzt eine Woche vor seinem Tod. (Anmerkung: Er starb mit 96 Jahren.) Er war ein faszinierender Mensch, er redete gern über die Musik von anderen, von Komponisten wie Leopold Godowsky, Franz Liszt und Ferruccio Busoni, seinen Helden. Über seine eigene Musik sprach er fast nie.

»Das Stück ist verrückt. In mancher Hinsicht verfluche ich den Tag, an dem ich angefangen habe, es zu spielen.«

Kevin Bowyer

Die Zweite Orgelsinfonie ist technisch extrem anspruchsvoll. Haben Sie schon ähnlich schwere Stücke gespielt?

Ok, dies ist keine Übertreibung: Wenn das schwerste nicht von Sorabji stammende Werk der Orgelliteratur einer Distanz von 10 Kilometern entspricht, dann entspricht Sorabjis Erste Orgelsinfonie 100 Kilometern – und Sorabjis Zweite Orgelsinfonie 10.000 Kilometern. Das Stück ist einfach … verrückt. In mancher Hinsicht verfluche ich den Tag, an dem ich angefangen habe, es zu spielen.

Was genau sind die Herausforderungen des Stücks?

Es ist kein einfaches Stück, nicht für mich, und auch nicht für das Publikum. Der schwierigste Teil zum Zuhören ist die erste halbe Stunde. Insgesamt klingt der erste Satz eher hart, in Teilen sehr aggressiv, nahe am Atonalen, vulkanartig explosiv und sehr dicht. Nach dem ersten Satz ändert sich die Klangsprache komplett. Das hat einen Grund: Als Sorabji den ersten Satz geschrieben hatte, legte er die Sinfonie erstmal zur Seite. Er befasste sich neun Monate lang mit einer anderen, neuen Komposition für Klavier, dem »Opus clavicembalisticum«, seinem berühmtesten Werk überhaupt. Als er danach zur Zweiten Orgelsinfonie zurückkehrte, war er wie verwandelt. Der zweite Satz ist viel lyrischer, viel tonaler.

Wie stehen Sie die Aufführung körperlich durch?

Man muss auf einer Seite eintauchen und hoffen, dass man auf der anderen Seite wieder herauskommt. Bei manchen Aufführungen habe ich zwischen den Sätzen Superfood-Salate gegessen, ich weiß nicht, ob das hilft. Ich glaube, um es wirklich zu schaffen, muss man das Stück als einen großen Song sehen, man muss vergessen, wie lang es ist. Man beginnt die Reise und hört erst auf, wenn die ganze Geschichte erzählt ist.

Video: Kevin Bowyer über Sorabjis Zweite Orgelsinfonie

Gab es Momente, in denen Sie das Gefühl hatten: Das schaffe ich nicht mehr?

Absolut, absolut. Und ich denke, es wird diesmal auch wieder so sein. Ich erinnere mich, dass ich 2010 in Glasgow mal an der Orgel saß und plötzlich meine Finger nicht mehr bewegen konnte. Die Verbindung zwischen Kopf und Fingern war weg, es ging gar nichts mehr, ich dachte: »Oh mein Gott, ich kann nicht mehr.« Ich stieg ins Auto und fuhr in den Supermarkt, ich ging shoppen. Und ich war so glücklich, so glücklich, nicht mehr dieses Stück zu spielen! Es war ein Tag im März, die Sonne schien, und … Oh! Mein Herz hat gesungen.

Was bedeutet es Ihnen, dieses Stück nun hier in der Elbphilharmonie zu spielen?

Es ist fantastisch, wirklich einmalig! Jede Gelegenheit, dieses Stück zu spielen ist für mich ein Privileg und ein Schrecken gleichzeitig. Vor der Aufführung werde ich wahrscheinlich wieder verzweifelt sein. Aber einer muss es tun und ich bin der Verrückte. Ich bin der Komiker dieses Stücks. Ich tue mein Bestes, aber ich bin nur ein Mensch.

Kevin Bowyer
Kevin Bowyer © Linda Fullarton

Haben Sie Sorabji manchmal verflucht?

Ja. Aber das zeigt nur, wie klein ich bin. Es sagt nichts über ihn. Ich bin froh, dass er das Stück geschrieben hat und würde nichts daran ändern. Mein Job ist es, zu zeigen, dass man dieses Stück als Ganzes spielen kann. Irgendwann wird es vielleicht einen Superman geben, der das Stück wirklich zum Klingen bringt, es mit all seinen Nuancen aufführt – und nicht in den Supermarkt flüchten muss.

Auch die Vorbereitungen für das Stück sind enorm. Sie waren im Vorfeld zwölf Tage in der Elbphilharmonie, um die Registrierung für diese Aufführung vorzunehmen. Was passierte da genau?

Es ging darum, für die verschiedenen Passagen die jeweils passenden Klangfarben zu wählen, das Stück sozusagen in die Sprache dieser Orgel zu übersetzen. Anders als beim Klavier sind die Möglichkeiten bei der Orgel natürlich enorm. Sorabji hat sie nicht vorgeschrieben. Ich kann also aus hunderten Klängen wählen und muss darauf achten, dass die Textur einer Passage bestmöglich wiedergegeben wird, alle Stimmen gut durchkommen. 65 Stunden lang ging ich das Stück Note für Note durch und speicherte insgesamt 1475 Register-Kombinationen im Computer der Elbphilharmonie-Orgel ein.

Haben Sie zum Schluss noch einen Ratschlag fürs Publikum?

Es ist eine Ausdauerprobe. Wenn das Publikum am Schluss applaudiert, gilt dieser Applaus ebenso sehr sich selbst wie mir oder dem Stück. Das Ende des Stücks ist überragend. Es ist, als ob man den höchsten Berg der Welt erstiegen hätte und von dort hinabblickt, auf all die anderen gezackten Gipfel, auf die Wolken. Der letzte Akkord ist ein C-Dur, aber mit unzähligen weiteren Noten drin, als hätten die Götter den Akkord farbig angemalt, er ist unglaublich. Es lohnt sich, zu warten. Auf diesen letzten Akkord lohnt es sich, 8 ½ Stunden zu warten, glauben Sie mir.

»Jede Gelegenheit, dieses Stück zu spielen, ist für mich Privileg und Schrecken gleichzeitig. Vor der Aufführung werde ich wahrscheinlich wieder verzweifelt sein. Aber einer muss es tun und ich bin der Verrückte.«

Kevin Bowyer

Interview: Francois Kremer, Stand: 5.7.2019

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