Louis Armstrong, 1953

Wie lernt man Jazz?

Über ein Genre zwischen Straßenkunst und Hochschulfach.

Ging Louis Armstrong als Kind in New Orleans auf eine Spezialschule für Musik? Durchlief er gar eine akademische Musikausbildung? Die wäre ihm zu Zeiten schärfster Rassentrennung in den Südstaaten der USA allenfalls an einem für Schwarze bestimmten Institut erlaubt gewesen. Aber Jazz hätte er dort kaum gelernt, denn Jazz war damals ja gerade erst geboren.

Er kam so ungefähr um 1900 zur Welt, wie Louis Armstrong. Satchmo lernte seine Kunst also nicht auf der Schulbank, sondern auf der Straße, in der »Second line«, bei den fidelen Trauerfeiern des Südens. Ältere Musiker spielten mit ihm und zeigten ihm ihre Tricks. Er hörte zu, er ahmte nach und machte daraus etwas Neues, Eigenes, nie zuvor Dagewesenes. Wie Louis Armstrong, der erste Weltstar des Jazz, lernten auch die meisten anderen großen afroamerikanischen Künstlerinnen und Künstler aus der Ära des Swing bis hinein in den Bebop das Wesentliche ihrer Kunst voneinander. Fernab jeder Akademie. 

Von der Straße in die Hochschule

Wer heute im Jazz etwas werden will, scheint an gepflegter musikalischer Früherziehung, an engagierter Mitwirkung in der Schulbigband und anschließendem Jazz-Studium kaum mehr vorbeizukommen. Zumindest bei uns. Jazz, diese elektrisierende, überschäumende Straßenkunst von einst, ist längst zu einem Hochschulfach geworden, mit Bachelor- und Masterabschlüssen und sogar Promotionsmöglichkeiten.

»Allerwichtigstes, allerschwierigstes Lernziel: Man selber werden beim Improvisieren.«

Skalen und Akkordverbindungen bosseln, Soli der alten Meister transkribieren und nachspielen. Ein paar Hundert Standards aus dem Real Book draufhaben. Neue Akkorde zu alten Melodien finden oder umgekehrt. Das eigene Instrument immer besser kennenlernen und spielen. Komponieren. Vor allem: Das Rhythmische immer besser verstehen, die Bewegungsenergie, die im Jazz der Ahnen vor allem aus diesem Schaukel-Drive bestand, der die Leute zum Fingerschnippen und Fußwippen bringt. Ohne den Swing, diese uralte, rhythmische Zauberformel, ist alles nichts im Jazz. Auch wenn die Time, das Wann und das Was, das Wieviel und das Wielang im Rhythmus des Jazz, heute viel komplexer geworden ist. Und, allerwichtigstes, allerschwierigstes Lernziel: Man selber werden, frau selber werden beim Improvisieren. 

Das Nonplusultra aller Jazzakademien

Die Berklee School of Music in Boston hat letztes Jahr ihr 75-jähriges Bestehen gefeiert. Sie war weltweit die erste ihrer Art und gilt vielen bis heute als das Nonplusultra aller Jazzakademien. In Deutschland standen bis vor 40 Jahren die Musikhochschulen von Weimar und Köln mit ihren Jazzstudiengängen noch allein auf weiter Flur. Inzwischen hat, wer später mal was mit Jazz machen will, die Wahl aus 51 Studiengängen an 20 Hochschulen, von Leipzig bis Saarbrücken, von Weimar bis Trossingen, private Institute nicht mitgezählt. Die Landesmusikräte übertreffen sich gegenseitig mit Förderangeboten. Sie richten Wettbewerbe und Ferienkurse aus und unterhalten eigene Jugendjazzorchester.

Berklee College of Music
Berklee College of Music © Alejandro Castro

Die Elbphilharmonie Jazz Academy

Und ab und an kommt ein Konzerthaus wie die Elbphilharmonie um die Ecke und denkt sich ein neues Weiterbildungsangebot wie die Jazz Academy aus. Eine Masterclass, bei der Ende August eine Woche lang 15 junge Solistinnen und Solisten aus ganz Europa in der Elbphilharmonie aufeinander losgelassen werden, ausgewählt unter Hunderten und kreativ angeleitet von international erfolgreichen Dozentinnen und Dozenten. Fächer: Trompete/ Posaune, Saxofon, Klavier, Bass, Schlagzeug, Komposition. Abschlusskonzert im Großen Saal inbegriffen.

Die Akademisten haben alle studiert oder studieren noch. Das Coronajahr war für die meisten von ihnen das reine Grauen. Die Hochschulen waren zu, die Clubs auch, Bläser waren als vermeintliche Aerosolschleudern zu besonderem Stillschweigen verurteilt. Jazz aber lebt vom Zusammenspiel, vom gemeinsamen Ausprobieren und Weiterentwickeln, auch vom Abhängen nach einem Konzert und dem mal fachlichen, mal nicht so fachlichen Austausch untereinander. Nichts davon ging unter Corona.

Analog oder digital: alles egal?

»Im Jazz zählt die spontane Erfindung, die Abweichung, nicht das Vorgefertigte.«

Manche Adeptin, mancher fortgeschrittene Novize wird sein Saxofon oder ihre Trompete Tag für Tag stundenlang ganz für sich im allein im Kämmerlein geübt und sich ansonsten von früh bis spät Jazz-Videos auf YouTube reingezogen haben. In den Tiefen dieser gigantischen Orbital-Garage fürs bewegte Bild lagern neben fachkundigen Anleitungen zur Kunst des Eyeliner-Auftrags, Tutorials zum akkuraten Anbringen einer Ikea-Jalousie oder zur Optimierung des Ernteertrags im Hochbeet auch unfassbar viele Videos, in denen Jazzmusikerinnen und -musiker ihr Wissen weitergeben.

Derlei Aufnahmen – etwa von Michael Brecker und Joe Lovano –, oft handgemacht und wenig glossy, dürften von Debütanten wie Fortgeschrittenen in der Kunst der Improvisation generell mit mehr Fleiß und Gewinn rezipiert werden als manche Dozenten-Vorlesung. Steile These: Wer nur genug erstklassige Videos dieser Art guckt und all die Tipps und Anregungen aufnimmt und ins eigene Spiel integriert, wird am Ende kein schlechterer Jazzer als die Absolventin aus Berklee.

Masterclass: Joe Lovano

Technisch mag das zutreffen. Doch selbst das athletischste Trockenschwimmen nützt wenig im Ernstfall Meer. Jazz verändert sich in dem Augenblick, wo andere mit ihren Instrumenten dazukommen. Wer gut werden will in dieser Kunst, braucht offene Ohren, Durchlässigkeit für feine Strömungen und Richtungsänderungen, auch die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Was, wenn das zuhause tausendmal Geübte jetzt plötzlich gar nicht passt? Wenn alle Licks ins Leere laufen? Im Jazz zählt die spontane Erfindung, die Abweichung, nicht das Vorgefertigte. Wie Michael Brecker im Youtube-Video einem Studenten in seiner Masterclass sagt: »Du hast das Solo von Vincent Herring selber transkribiert? Super. Und du hast es tierisch gut gespielt. Aber weißt du was? Lieber hätte ich dein eigenes Solo gehört.«

Im Jazz war es immer so, dass die Jungen nicht nur von den Alten gelernt haben, sondern mit ihnen. Und sie alle wissen: Die größte und beste Lehrerin ist und bleibt die Bühne. Sie ist der Ort, an dem beim gemeinsamen Musikmachen Intellekt und Intuition, spontane Impulse und Interaktion zusammenkommen – müssen. In jedem Augenblick, immer wieder neu, und deshalb unwiederholbar.

Text: Tom R. Schulz, Stand: 30. Juni 2021

Dies ist ein Auszug aus dem Beitrag »Die Kunst der Straße« aus dem Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 03/2021), das drei Mal pro Jahr erscheint.

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