Erlebnispark Lachenmann

Der deutsche Komponist macht Musik zum Erlebnis. Seine Werke sind keine bloßen Klanggebilde, sondern Einladungen, das Hören selbst neu zu entdecken.

Text: Ivana Rajič, 3. November 2025

 

Venedig sehen und sterben? Für Helmut Lachenmann hieß es das Gegenteil: neu geboren werden – zumindest künstlerisch. 1958 zog der 21-Jährige in die Stadt der Kanäle, um sich wie in einem Labyrinth aus Wasserwegen und Brücken treiben zu lassen, Wege auszuprobieren, Umwege zuzulassen und schließlich seinen eigenen Klang zu finden. Immer wieder erfand er die traditionellen Instrumente neu, entdeckte ungeahnte Klänge und Spielweisen und machte das physische Material des Tons selbst zum Thema seiner Musik. Kein anderer hat die Klangwelt des klassischen Orchesters so radikal erweitert, keiner ist dabei mit solcher Lust ins Unbekannte vorgestoßen. Heute gilt der gebürtige Stuttgarter als der wichtigste lebende deutsche Komponist. Seine Werke werden weltweit gespielt, seine ästhetische Haltung prägt Generationen. Und doch hat er sich das Staunen, die Neugier, das Abenteuer bewahrt. Am 27. November 2025 wird Helmut Lachenmann 90 Jahre jung.

Spotlight: Helmut Lachenmann :Season 2025/26

Ein Abenteurer der zeitgenössischen Musik wird 90 und das muss gefeiert werden! Helmut Lachenmann prägt mit Entdeckergeist und Experimentierfreude die Neue Musik. 

© Henrique Ferreira / Unsplash

Ein Pfarrerssohn trifft auf die jungen Wilden

»Geboren in Stuttgart, Pfarrhaus, viele Geschwister, viele Anregungen, viel Musik. Krieg, Nachkriegszeit, Klavierstunden, Knabenchor, Komponieren, Gymnasium, Bücher, Partituren, Abitur und Beginn des Musikstudiums« – so bündig fasste Lachenmann seine frühen Jahre einmal zusammen. Ab 1955 studierte er in Stuttgart Klavier bei Jürgen Uhde, Theorie und Kontrapunkt bei Johann Nepomuk David – fest in der Tradition verwurzelte und akademisch konservative Lehrer. Das erste von Lachenmann anerkannte Werk, »Fünf Variationen über ein Thema von Schubert« für Klavier, gibt als einziges Zeugnis von seinem frühesten Stil: Orientiert an der klassischen Variationstechnik, nimmt er Franz Schuberts »Deutschen Tanz« in cis-Moll auf eine fast Beethoven’schen Art und Weise auseinander, um ihn neu zusammenzusetzen. 

Franz Schuberts »Deutscher Tanz« in cis-Moll

1. Variation aus Helmut Lachenmanns »Fünf Variationen«

Bald allerdings werden die Zentren der zeitgenössischen Avantgarde – die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik und die Donaueschinger Musiktage – für den jungen Komponisten wichtiger. Dort traf er auf die geistigen Köpfe einer neuen musikalischen Welt: Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Bruno Maderna – Komponisten, die nach 1945 alles Vorherige infrage stellten. Ihre Kompositionsmethode: Der Serialismus – eine streng geregelte Musik, in der nicht nur die Töne, sondern auch ihre Dauer, Lautstärke und Klangfarbe systematisch organisiert werden. Nichts wird dem Zufall überlassen: Musik wird zur präzisen Architektur, in der jede Note ein Baustein in einem größeren System ist.

Luigi Nono
Luigi Nono © AAF – ArchivioArte Fondazione di Modena, FMAV Fondazione Modena Arti Visive

Auferstehung zum Avantgardisten

In Darmstadt begegnete Lachenmann 1957 einem Komponisten, der ihn nicht nur künstlerisch, sondern menschlich prägen sollte: Luigi Nono. Ihm folgte er ein Jahr später nach Venedig, um bei ihm zu studieren. Der Italiener lehrte ihn, dass Musik nicht bloß eine abstrakte Struktur sei, sondern immer auch eine Haltung zur Welt. Sie müsse politisch wach, ethisch verantwortlich, innerlich wahrhaftig sein. Als Nono in Lachenmanns Partituren blickte, soll er gesagt haben: »Raus mit diesen melodischen Wendungen!« – eine Aufforderung, sich von alten Gewohnheiten zu befreien. Unter Nonos Einfluss entstanden Werke wie »Souvenir«, »Fünf Strophen« und »Echo Andante« für Klavier solo. Mit letzterem gab Lachenmann 1962 als Komponist und Pianist seinen öffentlichen Einstand bei der Biennale in Venedig und den Darmstädter Ferienkursen – und fand schlagartig Anerkennung in den Kreisen der Avantgarde. Zwar orientiert er sich hier noch an Nonos Ordnungssystem der Töne, doch glättet er dessen sprunghafte Klangbewegungen und lässt zwischen den dissonanten, spannungsreichen Zusammenklängen Dur- und Moll-Farben aufscheinen. Gegen Ende des Werks durchbricht beispielsweise ein reiner C-Dur-Akkord im dreifachen Forte deutlich den Klangraum: 

»Bei mir ist der Ton nicht ›Cis‹ oder ›C‹, sondern ich höre die Energie«, erklärt Lachenmann später einmal. Und schon bei »Echo Andante« deutet sich an, was zu seinem Markenzeichen werden wird: das genaue Hinhören auf die physische Entstehung des Klangs. Die Töne sind sorgfältig gesetzt, ihre Anschlagsart – weich, hart, verhallt – wird hier zum kompositorischen Mittel und zeigt, wie sich ihre »Energie« selbst gestalten lässt.

Vom Klang zum Körper :Die »Musique concrète instrumentale«

Ende der 1960er-Jahre findet Lachenmann endlich eine Bezeichnung für das, was er tut: »Musique concrète instrumentale«. Ein sperriger Begriff, der aber etwas ganz Einfaches meint: Musik, die von der konkreten Art ihrer Klangerzeugung ausgeht. Was der französische Komponist Pierre Schaeffer in seiner »Musique concrète« mit Tonbandaufnahmen von realen Alltagsgeräuschen machte, überträgt Lachenmann auf klassische Instrumente. Seine Klangquellen sind keine Motoren, Glocken oder Eisenbahnen, sondern Geigen, Trompeten und Posaunen.

Die Musiker:innen spielen nicht mehr auf ihrem Instrument, sondern mit diesem: Kratzen, Streichen, Klopfen, Reiben. Musik entsteht aus der Materialität des Instruments, sodass eine Unterscheidung in »schön« und »hässlich« überflüssig wird. Lachenmann möchte den konkreten Klang so weit wie möglich von allen Konventionen und Hörgewohnheiten befreien. Viele seiner Werke jener Zeit tragen Titel, die auf Bewegung oder Energie verweisen – »Pression« für Cello (1969/70), »Guero« für Klavier (1970) »Dal niente (Intérieur III)« für Klarinette (1970), »Schwankungen am Rand« für Blech und Saiten (1974/75). Dahinter steckt immer derselbe Impuls: den Moment zu gestalten, in dem ein Klang geboren wird.

Lucas Fels spielt Helmut Lachenmanns »Pression«

»Pression« ist die erste seiner Wanderungen durch eine Vielzahl solcher einzelnen spieltechnischen Situationen. »So erbarmungslos war es bis dahin noch nicht«, sagt Lachenmann über das Werk. »Dieses Spiel, dass man den Klang als Resultat seiner Hervorbringung hört, musste ich abwandeln. Das bedeutete zum Beispiel, dass man nicht nur einfach den Bogen presst oder streicht, sondern dass man alle möglichen Varianten sucht, wie eine Energie umgesetzt werden kann auf diesem Instrument – sei es auf den Saiten, sei es auf dem Saitenhalter, sei es hinter dem Steg.« In »Gran Torso« (1971) wendete Lachenmann diese Kollektion von Spieltechniken – vom fast unhörbaren Gleitgeräusch der Finger bis zum massivsten Bogendruck – erstmals auf alle vier Instrumente des Streichquartetts an – als zertrümmertes Monument der klassischsten aller Gattungen.

»Das hat die Leute nicht gleichgültig gelassen«, untertreibt Lachenmann. Seine »Musique concrète instrumentale«, die bis zum Ende der 1970er-Jahre zur bestimmenden Ästhetik seiner Werke wurde, löste nicht selten Verstörung und scharfe Ablehnung aus. Als Instrumentenquäler haben ihn früher viele beschimpft. Dabei waren seine Experimente nie Selbstzweck. Denn es ging Lachenmann weniger um neue Klänge als um ein neues Hören.

Vergangenes musikalisch überspielen

Dafür müssen auch die vertrauten Töne der Vergangenheit verschwinden. Das schmerzte das Publikum etwa bei der Uraufführung von »Accanto« für Klarinette solo und Orchester (1975/76). Aus Wolfgang Amadeus Mozarts Klarinettenkonzert in A-Dur werden hier minimale, verfremdete Klangfragmente über Tonband eingespielt – der einst geliebte Konzertfavorit wird nun in einen unangenehmen Geräuschzustand überführt. In einer einzigen Passage wird das Zitat nicht unkenntlich gemacht, jedoch mit einer Vokalaktion von etwas derber Art kombiniert. »Mein Stück ist accanto: daneben«, sagt Lachenmann ganz trocken dazu. Sein Werk wird zum Werkzeug, um gegen Verwechslungen des Schönen mit dem Konventionellen Einspruch zu erheben. Einen »zerstörerischen Umgang mit dem, was man liebt, um sich dessen Wahrheit zu bewahren«, nennt es der Komponist.

Wolfgang Amadeus Mozart
Wolfgang Amadeus Mozart © Barbara Kraft/Wikimedia Commons

Was mit Orchesterwerken wie »Accanto« oder auch »Tanzsuite mit Deutschlandlied« begann, setzte sich in den 1980er-Jahren fort: Ein deutlicheres, wenngleich natürlich jetzt immer kritisch-analytisches Anknüpfen an die Tradition. Sein Zweites Streichquartett »Reigen seliger Geister« (1988/89) etwa verweist bereits im Titel auf Christoph Willibald Glucks »Orfeo ed Euridice«. Und der betont spielerische Klavierpart in »Ausklang« (1984/85) für Klavier mit Orchester, bestimmt von rasanten Tonwiederholungen, Glissandi, chromatischen Läufe und Arpeggien, lässt immer wieder an die Virtuosität großer sinfonischer Klavierkonzerte der vorangegangenen Jahrhunderte denken (wobei die Tonrepetitionen eine Anspielung auf den amerikanischen Klavierperformer Charlemagne Palestine sind). So entsteht ein Werk, das das Spannungsfeld von Fremdheit und Vertrautheit auslotet. Seine musikalische Kernidee: den unvermeidlichen »Ausklang« des Klaviers zu überlisten – durch vielfältige Halte-, Pedal-, Resonanz-, Echo- und Nachgreif-Techniken, die den Ton über seine natürliche Grenze hinaus verlängern und ihn im Orchester fortklingen lassen. 

Jahrhunderterfolg

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts kommt für Lachenmann, der über Jahrzehnte hinweg heftig angefeindet wurde, die späte Anerkennung. 1997 wird die Uraufführung seiner ersten und bislang einzigen Oper, »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern«, in Hamburg zu einem unerwartet großen Erfolg. Alle Aufführungen sind ausverkauft, ein moderner Klassiker ist geboren. Der Komponist erzählt hier die traurige Geschichte von einem kleinen Mädchen, das in der Silvesternacht Streichhölzer verkaufen soll und erfriert – um eigentlich die soziale Kälte in einer Gesellschaft zu verurteilen, die mitleidlos nur mit sich selbst beschäftigt ist. Dass die Welt erstarrt, steifgefroren und knochenhart ist, die Lachenmann in seiner Oper malt, hört man am Knacken und Klirren, das die Instrumente hervorbringen, ihrem leisen Fauchen und der brüchigen Geräuschkulisse. Und was sie mit dem Menschen macht, wenn er ihr ausgesetzt ist, hören wir auch: Das Schlottern und Bibbern der Stimmen, ihr stockender Atem, ihr Japsen, das einen die Kälte förmlich spüren lassen.

Jene Gänsehaut erzeugenden, rhythmischen Wischgeräusche auf Trommelfellen, die am Ende der Oper die Auswegslosigkeit untermalen, hallen in vielerlei Varianten auch in »Schreiben« für Orchester (2003/04) nach. Es ist, als ob Lachenmann in diesem Werk seine eigene musikalische Sprache noch einmal befragt – als sei auch sie inzwischen zu einer Tradition geworden, die kritisch neu beleuchtet werden muss. Noch deutlicher zeigt sich dieses Prinzip in »Concertini« für Ensemble (2005). Hier scheint Lachenmann mit sich selbst zu »konzertieren«: Fragmente aus früheren Werken wie »Souvenir« (1959), »Schwankungen am Rand« (1974/75) und »Mouvement (– vor der Erstarrung)« (1983/84) treten in einen vielschichtigen Dialog, wobei sein Drittes Streichquartett, »Grido« (2000/01), am deutlichsten an die Oberfläche tritt. 

Helmut Lachenmanns »Grido«

»Grido«-Zitat in Helmut Lachenmanns »Concertini«

Helmut Lachenmann Helmut Lachenmann © lebrecht music and arts photo library

»Der Gegenstand von der Musik ist das Hören.«

Helmut Lachenmann

Voller Überraschungen

Und auch mit über 80 Jahren ist Lachenmann noch immer für eine Überraschung gut. Mit »Marche fatale« (2016/17) schreibt er einen heiteren, beinahe melodienseligen Marsch – und bringt damit ausgerechnet jene ins Wanken, die seinen Stil zum Dogma erhoben hatten. Plötzlich wird seine Musik zum Skandal, nicht weil sie schräg klingt, sondern so unverschämt eingängig. 

Über seine späten Arbeiten sagt Lachenmann, sie seien der Versuch, »nicht ins Unbekannte, sondern ins Bekannte vorzustoßen.« Jedes Werk ist für ihn eine Entdeckungsreise, ein neues Abenteuer – nach jedem Stück möchte er ein anderer sein als davor. Die einzige Konstante in all dem Wandel bleibt seine Grundüberzeugung: »Der Gegestand vo der Musig isch des Horä«, wie er mit schwäbischem Zungenschlag betont – ein Weg, den er durch das dichte Labyrinth der Musik, voller unzähliger Abzweigungen, ganz allein finden musste. Denn: »Komponieren ist wie sterben: man ist de facto völlig allein!« Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in der Kunst: Hier kann man, immer wieder, neu geboren werden.

Mediatheque : More stories

Play Video

: Arvo Pärt: »Tabula rasa«

mit dem Estonian Festival Orchestra, Midori, Hans Christian Aavik und Paavo Järvi

Julian Lage in the Recital Hall
Play Video

Video on demand from 3 Nov 2025 : Julian Lage in the Recital Hall

Jazz guitarist Julian Lage presents his latest solo project »World‘s Fair«

Elbphilharmonie Talk with Martin Fröst

The Swedish clarinet star talks about his career, ABBA and a dance with his instrument