Magazin »Natur«

Stichwort »Natur« – die Playlist

Die Playlist rund ums Thema »Natur« – aus dem Musiklexikon der Elbphilharmonie.

Antonio Vivaldi: Le quattro stagioni

Die Natur zählt zu den beliebtesten musikalischen Sujets überhaupt. Ob Moldau-Fluss oder norwegische Morgenstimmung, ob Alpensinfonie oder La mer, ob Schäfer-Idyll, Jäger-Oper oder Wanderer-Fantasie – praktisch jeder Komponist ließ sich von seiner Umwelt inspirieren. Aber niemand brachte es damit zu solcher Berühmtheit wie Antonio Vivaldi mit seinen »Vier Jahreszeiten«, die unter anderem Gewitter, drückende Hitze und Eiseskälte ganz plastisch in Töne fassen.

Ihre Popularität spielt sich auch in unzähligen mehr oder weniger geglückten Arrangements und Reverenz-Werken von der E-Geige bis zu Astor Piazzollas Tango-Zyklus. Eine der besten der weit über 1000 Aufnahmen stammt von der italienischen Alte-Musik-Truppe Il Giardino Armonico, die etwa den Winter ganz wunderbar klirren lässt.

Internationales Musikfest Hamburg

28. April – 1. Juni 2022: Die großen Hamburger Orchester und hochkarätige Gäste sowie Größen aus Jazz bis World widmen sich über vier Wochen dem Motto »Natur«.

Jean-Philippe Rameau: La poule

Eine Besonderheit unter den Natur-Vertonungen bildet die Unterkategorie »Tiere« – nicht erst seit Camille Saint-Saëns’ »Karneval der Tiere«. Schon Joseph Haydn bildete in seiner »Schöpfung« die Fauna enzyklopädisch vom Wurm bis zum Wal ab, und an Vogelstimmen-Imitationen versuchten sich zahlreiche Komponisten, besonders prominent Beethoven in seiner »Pastoralen«.

Ein besonders amüsantes Beispiel lieferte der Cembalovirtuose Jean-Philippe Rameau 1726 in seinen »Pièces de clavecin«. Bezeichnet sind sie als Suiten, eigentlich eine Folge stilisierter Tänze. Doch der Spaßvogel Rameau baute zahlreiche thematisch motivierte Sätze ein, darunter auch »La poule«, der das Gackern eines Huhns ornithologisch korrekt wiedergibt. Die Begleitakkorde übrigens sind konsequent dreistimmig gehalten – also auch mit Hühnerkrallen spielbar.

Louis Armstrong: What a Wonderful World

Grüne Bäume, rote Rosen, blauer Himmel, weiße Wolken, überspannt vom bunten Regenbogen – Louis Armstrongs Ballade von 1967 zeichnet eine fast schon verdächtig heile Welt. Und dann schafft es der Mann auch noch, seine Reibeisenstimme so warm klingen zu lassen wie die Frühlingssonne und bei jeder noch so unwahrscheinlichen Silbe wie eine große Grinsekatze in die Kamera zu strahlen.

Dabei waren die Zeiten alles andere als rosig; der Vietnamkrieg lief ebenso aus dem Ruder wie die brutale weiße Polizeigewalt gegen die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Einer tief gespaltenen Gesellschaft von einer »wundervollen Welt« zu singen, war also entweder a) hoffnungslos naiv oder b) unglaublich optimistisch. Armstrongs Produzent tendierte zu a), weshalb der Song in den USA erst 20 Jahre später bekannt wurde – und sich Lesart b) nachhaltig durchsetzte.

Marvin Gaye: Mercy Mercy Me (The Ecology)

»Wo ist der blaue Himmel geblieben? Gift im Wind, Ölpest in den Ozeanen, Quecksilber in den Fischen, Verstrahlung am Boden und in der Luft …« Eigentlich ist Marvin Gaye ja als »Prince of Motown« bekannt, als soulig groovender Feelgood-Partyhit-Garant. Doch mit seinem Album »What’s Going On« (1971) zog er den Erwartungen seines Labels gehörig den Stecker und thematisierte Umweltzerstörung, Rassenunruhen, das Vietnamkriegs-Trauma seines Bruders und seine eigene Heroin-Abhängigkeit.

Gayes sanfte Stimme klang plötzlich ziemlich fatalistisch. Gerade die Ausbeutung der Natur war bis dahin nicht im öffentlichen Bewusstsein präsent, sein Manager kannte das Wort »Ecology« gar nicht. Bis zur Gründung der Grünen sollten noch neun Jahre vergehen, und erst nach und nach sprangen andere Künstler auf den Öko-Zug auf. 2020 kürte der »Rolling Stone« das visionäre Konzeptalbum zur besten Platte aller Zeiten.

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Magazin »Natur« Magazin »Natur« © Elbphilharmonie Hamburg

Anton Webern: Im Sommerwind

Im Sommer 1904 war die Welt für den 20-jährigen Anton Webern noch in Ordnung. Im Kärntner Urlaubsdomizil gab er sich in postpubertärem Gefühlsüberschwang der Naturschwärmerei hin und warf die Tondichtung »Im Sommerwind« aufs Papier – eine Viertelstunde schmachten und sehnen, wiegen und wogen für gigantisch besetztes Orchester. Wie so viele Musik des Fin de Siècle vergeht sie fast vor Schönheit, weiß aber auch nicht recht, wohin mit sich.

Den Bruch vollzog Webern wenige Monate später, als er beim radikalen Erneurer Arnold Schönberg Unterricht nahm. Fortan sollte die Reduktion sein wichtigstes Stilmittel werden. Und so dürfte »Im Sommerwind« ungefähr so viele Noten enthalten wie sein komplettes späteres Oeuvre.

Franz Schubert: Heidenröslein

Besonders gern wurde die Natur als unverfängliche Metapher bei schlüpfrigen oder politisch heiklen Themen bemüht, über die man eben nicht »unverblümt« sprechen konnte. Goethes berühmtes »Heidenröslein« etwa nutzt das seinerzeit gängige Sprachbild von der (Jung)Frau als Blume, die jederzeit von einem Mann »gepflückt« werden kann. Das Gedicht endet erschreckend achselzuckend: »Und der wilde Knabe brach / ’s Röslein auf der Heiden / Röslein wehrte sich und stach / Half ihm doch kein Weh und Ach / Musst’ es eben leiden.« Nur konsequent von Franz Schubert, dass er seine Vertonung 1815 ähnlich lapidar beschloss.

Es gibt allerdings auch den umgekehrten Fall: Im »Veilchen«, 1785 von Mozart in Töne gesetzt, ist der Mann die Blume, der darauf hofft, von einem Mädchen gepflückt und an den Busen gedrückt zu werden – vergeblich, denn die Angebetete nimmt das Veilchen gar nicht wahr und tritt es achtlos platt.

Charles Koechlin: Dschungelbuch-Zyklus

»Probier’s mal mit Gemütlichkeit« – mit dieser Lebensweisheit des ersten inoffiziellen Entschleunigungs-Apostels Balu hätte man Charles Koechlin nicht kommen dürfen. Der Franzose (1867–1950) komponierte vielmehr im Akkord, buchstäblich Hunderte von Werken. Als Maverick der Musikgeschichte pflegte er dabei einen eklektischen Stil, der zwischen Im- und Expressionismus, Neoklassizistik und freier Atonalität schwankte, manchmal sogar in ein und demselben Stück.

Ähnlich breit gestreut waren seine Interessen von mittelalterlicher Musik über stereoskope Fotografie, Archäologie, Astronomie, Tennis und Kommunismus bis zum Hollywood-Kino. Einen Ehrenplatz in dieser obskuren Liste nimmt Rudyard Kiplings »Dschungelbuch« ein, dem er nicht weniger als vier Sinfonische Dichtungen und drei Orchesterlieder widmete. »Les Bandar-log« etwa illustriert, wie Mowgli von den Affen entführt wird. Landen konnte er mit seinem Stilmix nirgendwo wirklich – weshalb seine grandiose Musik leider bis heute kaum gespielt wird.

John Luther Adams: Become Ocean

»Das Leben auf unserem Planeten entwickelte sich im Wasser. Wenn nun die Polkappen schmelzen und der Meeresspiegel steigt, endet es auch wieder im Wasser.« Eine ebenso simple wie plausible wie erschütternde Prognose zur Zukunft der Menschheit. Formuliert hat sie der heute 69-jährige John Luther Adams, der als Komponist und Umweltaktivist lange in Alaska lebte. Und er setzte sie auch gleich in Musik um: »Become Ocean« heißt sein dreiviertelstündiges Orchesterstück aus dem Jahr 2013, für das er einen Pulitzer-Preis und einen Grammy gewann.

Analog zu seiner Einschätzung ist es symmetrisch angelegt und läuft ab der Hälfte exakt spiegelverkehrt rückwärts, bis der Ausgangszustand erreicht ist. Angesichts des dramatischen Themas kommt es musikalisch aber eher zahm daher: Der »New Yorker« nannte es »die lieblichste Apokalypse der Musikgeschichte«.

Open-Air-Percussion-Performance

Im Rahmen des Internationalen Musikfestes bringen am 15.5.2022 rund 40 Schlagwerker John Luther Adams’ »Inuksuit« im Hamburger Park Planten un Blomen zur Aufführung – Eintritt frei.

Text: Clemens Matuschek, Stand: 25.03.2022
 

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