Caroline Shaw

Caroline Shaw im Portrait

Die Sängerin, Geigerin und Komponistin Caroline Shaw sucht Neues abseits der Trampelpfade.

Atemlos? Nie!

Mit Atemgeräuschen kennt sich Caroline Shaw gut aus, und das nicht erst, seit SARS-CoV-2 unserer Welt buchstäblich den Atem geraubt hat. Der Vater der US-amerikanischen Sängerin, Geigerin und Komponistin ist Lungenarzt, durch ihn lernte sie schon früh, sogenannte Atemmuster zu erkennen – eine von vielen Diagnosehilfen bei allen Lungenerkrankungen. Deshalb weiß Caroline Shaw sehr genau, wie wichtig Atmen ist – nicht nur für Menschen, die das nicht mehr so können, wie sie sollten, sondern auch für die Musik.

 

»Der Atem ist für mich eine der ausdrucksstärksten Qualitäten im Gesang und in der Musik.«

Caroline Shaw

 

»Unlängst war ich für ein Projekt im Aufnahmestudio, und der Tontechniker hat ohne mein Wissen die Atemgeräusche, die Sänger beim Singen produzieren, entfernt«, erzählte sie kürzlich in einem Interview. »Aber genau das will ich unbedingt hören, genau das soll man später wahrnehmen können! Denn darin liegt der Unterschied zwischen einem echten Menschen mit all seinen  Unvollkommenheiten und irgendeinem überproduzierten Soundsample in einem Popsong. Da stecken so viele Emotionen drin! Manchmal ist Atem Verletzlichkeit, manchmal Verzweiflung, manchmal Sex. Er ist für mich eine der ausdrucksstärksten Qualitäten im Gesang und in der Musik.«

Caroline Shaw
Caroline Shaw © Kait Moreno

Kindheit mit Klassik

1982 in der Provinz von North Carolina geboren, lernte Shaw schon mit zwei Jahren Geige nach der Suzuki-Methode, bei der bereits sehr junge Kinder vor allem durch das Prinzip der Nachahmung ans Instrument herangeführt werden. Ihre Mutter, eine Sopranistin, war ihre erste Lehrerin, und so wurde der Gesang neben der Geige auch bald zur bevorzugten musikalischen Ausdrucksmöglichkeit. Kirchenchor, Jugendorchester – eine Kindheit, fast ausschließlich geprägt von klassischer Musik. Shaw erinnert sich, dass sie kaum Berührungspunkte zu irgendeiner Form von Popkultur hatte.

In der Plattensammlung ihres Vaters fand sie die Beach Boys und Cole Porter. Aber sonst? Sie freundete sich mit dem Organisten der benachbarten kleinen Kirche an, der zum Spaß alle Orgelstücke von Bach auswendig lernte. Sie war eine begeisterte Hörerin (und beharrliche Anruferin) des lokalen Klassikradios, wünschte sich dauernd bestimmte Werke, um sie daheim mit dem Kassettenrekorder aufzunehmen, und rief dann enttäuscht an, wenn die falsche Aufnahme gesendet wurde.

In den Sommercamps spielte sie begeistert Streichquartett – eine Liebe, die bis heute anhält. Und nach der High School musste sie sich gar nicht für oder gegen das Geigenstudium entscheiden, das war ohnehin klar. Zunächst an einer Uni in Texas, dann an der Yale School of Music: die ganz klassische Ausbildung mit engem Fokus auf Technik und Standardrepertoire, kein Blick nach rechts oder links.

Caroline Shaw
Caroline Shaw © Kait Moreno

Neue Wege

Und plötzlich war Caroline Shaw all das zu eng. Sie stellte fest, dass beispielsweise die Percussion-Abteilung ganz anders mit Musik umging. »Die waren viel cooler als wir Streicher«, erzählte sie einmal. »Wir bewunderten sie aus der Ferne. Die durften diese neue Musik spielen und experimentierten mit verrückten Klängen. Und ich war in der Welt von Paganini, Brahms und Beethoven.« Also begann sie, ihren musikalischen Horizont selbstständig zu erweitern. Sie schaute sich gründlich in all dem um, was für sie neu war, um herauszufinden, was sie – sie ganz allein – wirklich mag und schätzt in der Musik, sei es Klassik oder Folk, Blues, Jazz, Pop oder Rap.

Auf Jam Sessions lernte Shaw, nicht nach Noten zu spielen. Und ohne irgendeine formale Kompositionsausbildung gewann sie ein Stipendium, das es ihr ermöglichte, an der Universität Princeton das Komponieren von Streichquartetten zu üben. Sie traf dort auf Lehrer, die sie einfach machen ließen, die nicht auf Formalien beharrten oder mit irgendwelchen Kompositionsregeln um die Ecke kamen, wenn sich die Schülerin auch nur einen Zentimeter abseits der ausgetretenen Trampelpfade erwischen ließ.

Roomful of Teeth

Und dann, 2009, kam Roomful of Teeth. Ein merkwürdiger Name für eine Gruppe von neun Sängerinnen und Sängern, die den Versuch wagten, die Möglichkeiten des Gesangs so weit auszureizen, dass etwas Neues zwischen Jahrhunderte alter Tradition und kitschigen A-cappella-Songs entstehen kann.

Das Ensemble tritt bis heute gemeinsam auf, es gibt sehens- und hörenswerte Videos von Konzertausschnitten im Netz, und wenn man da zuschaut, muss man wieder an die Atemgeräusche denken. Denn Roomful of Teeth singen nicht nur, sie sprechen, summen, schmatzen, stöhnen, schnaufen, kurz: Sie tun alles, was man mit dem Mund, diesem Raum voller Zähne, eben machen kann.

Roomful of Teeth: Caroline Shaws »Partita for 8 Voices«

Mit diesem Ensemble hatte Shaw auch ihren bisher größten Erfolg als Komponistin: ihren 20-Minüter »Partita for 8 Voices«, für den sie 2013 wie aus dem Nichts mit dem Pulitzer Prize for Music ausgezeichnet wurde. Das war – kann man sich vorstellen – eine echte Sensation: Eine so junge Frau (die jüngste bis dato), die sich selbst eher als Musikerin denn als Komponistin bezeichnen würde, gewinnt diesen prestigeträchtigsten Kompositionspreis der USA. Das viersätzige Werk beginnt mit gesprochenen Tanzanweisungen, die sich immer mehr verdichten und überlagern und auf einmal in strahlende Akkorde münden. Ein krasser Effekt, der sich einbrennt.

Auch die Art, wie die Performer zu Beginn sprechen, hat Shaw präzise definiert. Sie liebt die tief hinten in der Kehle sitzende Sprechstimme ihrer Landsleute aus dem Süden der USA. Man kennt das ja von sich selbst: Die eigene Sprechstimme verändert sich, wenn man in verschiedenen Sprachen oder Dialekten spricht; sie versucht, sich den vorgegebenen Lauten anzupassen.

Caroline Shaw im Podcast über den Zauber der Natur, die eigenen Wurzeln und die Botschaft ihres Albums »Let the Soil Play Its Simple Part«

Auf Tournee mit Kanye West

Fasziniert war auch der Rap-Star Kanye West, als er 2015 die »Partita« zum ersten Mal live hörte, und er suchte die Zusammenarbeit mit der jungen Kollegin. Sein Angebot, Orchesterversionen einiger seiner Alben für ihn zu arrangieren, lehnte sie ab – zu langweilig. Sie remixte lieber den Song »Say You Will«, indem sie ihre Gesangs- und Geigenspuren auf eine Weise hinzufügte, die die Besessenheit des Originals noch verstärkt. Das fand auch Kanye West gut und nahm sie mit auf Tournee. Auf einmal waren da Stadien voller Menschen, die Shaw bejubelten – was für eine Erfahrung! Als Kanye West sich allerdings öffentlich für den damals noch amtierenden US-Präsidenten Trump aussprach, verließ Shaw die Tour.

Kanye West / Caroline Shaw: »Say You Will«

Auch ihre »Partita« kann man derzeit nicht mehr live erleben, seit 2019 die kanadische Inuk-Kehlkopfsängerin Tanya Tagaq die Verwendung von Katajjaq, einer traditionellen Form des Inuit-Kehlkopfgesangs, in Shaws Komposition als »kulturelle Aneignung« bezeichnete. Shaw traf diese Anschuldigung hart, doch sie lenkte ein und sucht derzeit noch nach einer Lösung, damit das Werk, das schließlich ihre ganze musikalische Welt spiegelt, endlich wieder aufgeführt werden kann.

Und bis dahin? Komponiert sie weiter: Opern, Orchesterstücke und Konzeptalben wie »Let the Soil Play Its Simple Part« mit dem Schlagwerkensemble Sō Percussion, das sie noch aus ihrer Zeit in Princeton kennt. Und zum allerersten Mal in dieser bemerkenswerten Karriere steht diesmal Caroline Shaws eigene Stimme im Mittelpunkt. Und natürlich ihr Atem.

Text: Renske Steen, Stand: 04.04.2022

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