George Benjamin

Der Geschichtenerzähler

Über einen der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit: Sir George Benjamin.

Wo seine Musik erklingt, ist von irisierenden Farben die Rede, von Transparenz, von delikat abgestimmten Klangcocktails mit einer unheimlichen Suggestivkraft. Sir George Benjamin, 1960 in London geboren, ist einer der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart. In der Saison 2018/2019 war er Residenzkünstler der Elbphilharmonie.

Über den Residenzauftakt mit »Written on Skin«

Ein Wunderkind

Schon früh zeichnete sich sein außergewöhnliches Talent ab: Als Siebenjähriger komponierte er bereits bücherweise Musik, mit 16 nahm ihn der große Olivier Messiaen als jüngsten und letzten Schüler unter seine Fittiche. »George war mein Lieblingsschüler«, erinnerte sich der 1992 verstorbene Komponist einmal, »er verfügt über eine ähnlich große Begabung, wie sie dem jungen Mozart nachgesagt wird.« Kann es ein größeres Kompliment geben?

»Stürme inspirieren mich sehr, die Natur, Licht.«

George Benjamin

»Ringed by the Flat Horizon«

Vier Jahre später sorgte Benjamin mit seinem ersten Orchesterwerk »Ringed by the Flat Horizon« als jüngster Komponist der berühmten Londoner Proms, einer traditionellen Konzertreihe im Sommer, für helle Begeisterung. Es folgten solistische und kammermusikalische Werke wie »A Mind of Winter« und »At first Light«, die für ihre kunstvolle Instrumentation und Komplexität bei zugleich glasklarer Struktur gerühmt wurden. Trotz ihrer Individualität wirken in Benjamins Werken verschiedene Traditionen fort, insbesondere die französische: Impressionisten wie Debussy und Ravel und die farb­schillernde Musik Messiaens prägten seinen Stil ebenso wie indische Musik, die ihm auf Reisen begegnete, und die dichte, gedrängte Sprache Anton Weberns.

»Ich will etwas mit meiner Musik sagen, und das so klar und kompakt wie nur möglich.«

Seine musikalische Ambition fasste Benjamin einmal so zusammen: »Ich will etwas mit meiner Musik sagen, und das so klar und kompakt wie nur möglich. Ich will ein Maximum an Informationen schichtweise übereinanderlegen, aber so transparent, dass alles hörbar bleibt. Und trotz dieser Vielschichtigkeit soll sich das Stück entwickeln.«

George Benjamin
George Benjamin © Matthew Lloyd

Jedes Werk konstruiert Benjamin außerdem nach einem anderen Prinzip: »Ich habe immer zuerst ein architektonisches Kompositionsmodell vor Augen. Mal interessiert mich die Dynamik, mal die Rhythmik, dann wieder die Farben. Erst dann ist Platz für Inspiration – für eine Stimmung, ein Gedicht, ein Bild, ein spezielles Instrument. Stürme inspirieren mich sehr, die Natur, Licht.«

»Manchmal fragte ich mich nicht nur, ob ich eines Tages zügiger würde schreiben können, sondern ob überhaupt noch.«

Ein solcher Anspruch erfordert Zeit. Langsam, mit skrupulöser Akribie feilte Benjamin mitunter Jahre an 15 oder 20 Minuten Musik. »Als Komponist ist man heute völlig frei. Man schreibt eine Note, und es gibt nicht nur zwölf Möglich­keiten (oder mehr) für die nachfolgende, sondern auch noch Register und Klangfarben. Die Entscheidungsmöglichkeiten vervielfachen sich zu Milliarden. Manchmal fragte ich mich nicht nur, ob ich eines Tages zügiger würde schreiben können, sondern ob überhaupt noch.«

Die größte Hürde

Benjamins Skrupel blieben unbegründet. Mit Mitte 40 nahm er die nach eigener Aussage größte Hürde und schrieb seine erste Oper »Into the Little Hill«. Lange hatte er sich nicht an Musik für die Bühne gewagt. Sein Dilemma: Geschichtenerzählen – das, was ihn schon als Kind fasziniert hatte – war in der zeitgenössischen Oper längst aus der Mode gekommen.

Benjamin fand sich im Zeitgeschmack nicht wieder. »Opern ohne eine Geschichte berühren mich nicht. Den Naturalismus des Kinos wollte ich aber auch nicht kopieren. Ich musste also einen Weg finden, etwas zu erzählen, das die Künstlichkeit der Situation in der Oper respektiert und dem Zuschauer trotzdem nahegeht.«

Ein idealer Partner

In dem Dramatiker Martin Crimp fand Benjamin 2005 den idealen Partner für seine lang gehegte Vision. Crimps direkte Sprache – »hart, extrem ökonomisch und fantasievoll zugleich« – wirkte wie ein Katalysator: »Ihn schickte der Himmel. Er knackt mich auf. In nur sechs Monaten war meine erste Kammeroper ›Into the little Hill‹ fertig.«

George Benjamin und Martin Crimp
George Benjamin und Martin Crimp © Benjamin Ealovega / Gramophone

Mit »Written on Skin« hob Benjamin 2012 schließlich seine erste großformatige Oper für fünf Sänger und Orchester aus der Taufe, ein Drama um Sinnlichkeit, Unterwerfung und Selbstbefreiung. Mit überwältigendem Erfolg: Bereits bei der Uraufführung beim Festival d’Aix-en-Provence wurde sie enthusiastisch als Referenzwerk des 21. Jahrhunderts gefeiert. Und nach nur sechs Jahren blickt »Written on Skin« auf gut 100 Aufführungen von London über Amsterdam, New York, Moskau und Toronto bis Stockholm und auch die Elbphilharmonie zurück – für eine zeitgenössische Oper ein sensationeller Erfolg.

Die Uraufführung seiner neuesten Oper »Lessons in Love and Violence« fand im Frühling dieses Jahres am Royal Opera House in London statt und war im April 2019 an der Staatsoper Hamburg zu sehen.

 

Text: Laura Etspüler

George Benjamin in der Elbphilharmonie

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