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Umgehört: Sinn-Suche

Eine Frage, sieben Antworten: »Ist Musik bloßes Spiel oder existenzieller Ernst?«

Text: Ivana Rajič, 13 February 2025

Translation: 

 

The Elbphilharmonie magazine format »Umgehört« (Asked around) gets very personal: Seven artists – be they composers or musicians, pop or classical music – are asked one question and reveal their (inner) lives. In this edition, the question is: »Is music mere play or existential severity?« 

It is about the coexistence and juxtaposition of different perspectives on broad topics, which are essentially only composed of individual subjective experiences.

Tamara Stefanovich

Tamara Stefanovich
Tamara Stefanovich © Olja Radmanovic

Für Tamara Stefanovich ist Musik weder bloßes Spiel noch existenzieller Ernst: »Spiel ist etwas Ernstes, und Existenz steht immer auf dem Spiel«, erklärt die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende Pianistin. »Auch wenn man nur spielt, hat jedes Spiel eigene Gesetze und Regeln. Und auch wenn die Existenz ernst ist, kann sie sehr leicht ins Spielerische flüchten.« Der Ansatz des französischen Dramatikers Antonin Artaud, der Kunst als organisiertes Delirium sah, bringt diesen Balanceakt für sie auf den Punkt: »Wie organisiert man ein Delirium? Wie kann man das wilde Tier der Kreativität in ein Korsett schnüren?« Eine Antwort auf diese Fragen sucht sie im Mai in der Elbphilharmonie: Zwei in strenger Form komponierten Klaviersonaten des 20. Jahrhunderts stellt sie entfesselte, zum Teil improvisierte Gemeinschaftswerke ihres experimentellen Ensembles StefanovichDellLillingerWestergaard gegenüber. Eines ist für sie dabei immer klar: »Am Anfang einer jeden musikalischen Kreation sollte Verantwortung stehen.«

Marc Ribot

»Reflektor«-Künstler Marc Ribot
»Reflektor«-Künstler Marc Ribot © Daniel Dittus

»Ich empfinde es als notwendig, Musik in meinem Leben zu haben – aber ich weiß nicht warum«, rätselt Marc Ribot, der in den letzten vier Jahrzehnten zwischen Jazz, Rock und Noise zur Gitarren-Legende wurde und vor Kurzem ein Reflektor-Festival in der Elbphilharmonie kuratiert hat. »Ich meine, dass alles, was wir musikalisch oder künstlerisch tun, eine Art von Dialektik mit der Welt beinhaltet.« Auf die Idee etwa, ein Album mit Protestsongs aus dem Zweiten Weltkrieg, der US-Bürgerrechtsbewegung und von italienischen Partisanen zu veröffentlichen, brachte ihn Donald Trumps Präsidentschaftswahl 2016. Seine musikalischen Interessen möchte der US-Amerikaner aber nicht auf Agitprop beschränkt wissen: »Für mich steht die Musik nicht im Dienste einer politischen Idee«, betont er, »sondern beides steht im Dienste eines anderen menschlichen Bedürfnisses« – nämlich dem verbindenden Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein.

Sean Shibe

Sean Shibe in der Elbphilharmonie, Januar 2024
Sean Shibe in der Elbphilharmonie, Januar 2024 © Sophie Wolter

Relevanz schaffen – das ist das Ziel, mit dem Sean Shibe die Bühne betritt. Der schottische Gitarrist fühlt sich in der Verantwortung, der Musik, die er spielt, durch seine durchdachten Programme einen Kontext zu geben und künstlerisch auf seine Gegenwart zu reagieren. »Ich genieße musikalische Momente, die eine tiefere Ebene haben und so erschütternd spirituell wie möglich sind«, offenbart Shibe, der nach seinem letztjährigen Elbphilharmonie-Debüt als »Rising Star« im April mit einem neuen, genresprengenden Programm zurückkehrt. »Das kann auch Spaß machen, aber eigentlich steckt eine wichtige menschliche Erfahrung dahinter, die es für mich zu vermitteln gilt.« Beliebte Klassiker möchte er nicht einfach nur spielen, sondern »so behandeln, als würden wir sie zum ersten Mal hören, sodass sie sich uns neu offenbaren können«. Dafür greift er mal zur akustischen, mal zur elektrischen Gitarre, lässt alte Stücke auf brandneue treffen, macht eigene Arrangements und gibt neue Werke in Auftrag.

Tjasha Gafner

Tjasha Gafner
Tjasha Gafner © Daniel Delang

»Wenn ich ein neues Stück lerne, beginnt es als Spiel«, erklärt die 1999 in der Schweiz geborene Harfenistin Tjasha Gafner. Ihre Suche nach einer interessanten Interpretation bleibt manchmal einfach nur Vergnügen, führt sie manchmal aber auch zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der Materie, durch die sie neue Bedeutungsdimensionen entdeckt. »Ich denke vor allem an Schostakowitschs Musik, in der er etwa kommunistische Lieder versteckte, um zu zeigen, dass er mit seinem politischen Umfeld nicht einverstanden war.« Auch in der Elbphilharmonie wird Gafner im März solch ein doppelbödiges Werk spielen: »Légende« der französischen Komponistin Henriette Renié (1875–1956), inspiriert von einem düsteren Gedicht über Elfen. »Ich liebe es, dem Publikum diese Geschichte zu erzählen, sodass es noch tiefer in die Musik eintauchen und spüren kann, dass etwas sehr Dramatisches passiert«, sagt sie voller Vorfreude.

Sào Soulez Larivière

Der französischniederländische Bratschist betrachtet das Musizieren als einen »Raum, in dem man die Tiefen unserer Existenz erkunden und inmitten des Unbekannten einen Sinn finden kann« – denn: »Musik ist seit den Anfängen der Zivilisation ein Teil von uns.« In der griechischen Antike etwa glaubte man, dass die Musik göttlichen Ursprungs sei. Ihre Mythen berichten vom lyraspielenden Apollo, der den musikalischen Wettstreit gegen den Hirtengott Pan gewann, und von seinem Sohn Orpheus, der mit seinem Gesang sogar die dunklen Mächte der Unterwelt erweichte. Damals als bereichernde Gabe an die Menschen betrachtet, dient die Musik für Larivière bis heute als »Mittel zum Erzählen von Geschichten, für Rituale und zum Ausdruck von Gefühlen« – unabhängig davon, ob musiziert oder zugehört wird. Der junge Bratschist war in Hamburg bereits in der Reihe »Teatime Classics« zu Gast und kehrte im Januar 2025 als »Rising Star« zurück.

FLO

»Elbphilharmonie Session« mit FLO
»Elbphilharmonie Session« mit FLO © Daniel Dittus

»Musik war nie ein Spiel für mich«, betont Floriana Cangiano, kurz FLO, eine der vielseitigsten Musikerinnen Italiens. »Mit 14 Jahren habe ich angefangen, auf Hochzeiten zu singen. Ich erhielt jedes Mal 100.000 Lire« – wovon die Neapolitanerin damals ohne Unterstützung ihrer Familie lebte. Nach Gesangsstudium und diversen Theaterproduktionen brachte sie 2014 ihr erstes Album heraus, das gleich mit einem wichtigen italienischen Weltmusikpreis ausgezeichnet wurde. »Keiner in meiner Familie hatte das erreicht, was ich erreicht hatte«, erklärt die Sängerin, »und das alles dank der Musik.« Ihr quirliger Mix aus Canzone und Chanson, Pop und Latin, Jazz und Folk, den sie vor Kurzem beim Festival »Viva Napoli« in der Elbphilharmonie präsentierte, ist für sie heute »ein Ort für Träume und Wunder. Die Bühne ist der Zauber, um das Leben für einen Moment zu verlassen. Viele Künstler sagen, dass sie nur auf der Bühne ganz sie selbst sind. Bei mir ist das anders. Auf der Bühne bin ich so, wie ich gerne sein würde.«

Tomas Fujiwara

Thumbscrew: Mary Halvorson, Michael Formanek, Tomas Fujiwara
Thumbscrew: Mary Halvorson, Michael Formanek, Tomas Fujiwara © Daniel Dittus

Der Austausch während einer Live-Performance spiegelt für Tomas Fujiwara »Menschlichkeit, Gesellschaft, Politik, Innovation, Katharsis und Kreativität« wider. Das Musizieren beginne zwar als persönlicher Ausdruck durch Klang, der aber »in die Zusammenarbeit mit anderen eingebracht, durch Gruppendynamik, Interaktion sowie kollektive Ziele beeinflusst«, und im nächsten Schritt dem Publikum vermittelt wird. Als Drummer des Trios Thumbscrew, das vor Kurzem bei Marc Ribots Reflektor-Festival zu Gast war, weiß Fujiwara, wovon er spricht. Die drei etablierten Jazz-Größen steuern nicht nur zu gleichen Teilen Kompositionen bei, sondern begegnen auch dem Publikum auf Augenhöhe, das »die Musik ebenfalls auf persönliche Weise verarbeitet«. Fujiwara betont, dass diese Erfahrung zu einer »einfühlsameren, intelligenteren und ganzheitlicheren Art und Weise führt, wie die Menschen gegenüber anderen und letztlich als Mitglieder der Gesellschaft sein können.«

 

 

Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 1/25).

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