Xilin Wang gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten Chinas und schreibt Musik des inneren Aufruhrs. Nicht einmal 14 Jahre politische Verbannung und Verfolgung in der Kulturrevolution haben ihn bremsen können. Wenn seine dem Schriftsteller Lu Xun gewidmete Fünfte Sinfonie erklingt, wird aus dem Kleinen Saal der Elbphilharmonie eine audiovisuelle Echokammer aus Verblendung und Schimmer, aus Reibung und Wut.
»Das Werk ist ein Requiem für alle, die in China für Freiheit und Demokratie gekämpft haben.«
Xilin Wang
Besetzung
Ensemble Resonanz
Dirigent Johannes Kalitzke
Programm
Xilin Wang
Sinfonie Nr. 5 für Streichorchester op. 40
Dauer: ca. 30 Minuten
im Anschluss: Künstlergespräch über Zoom
Die Künstler
Ensemble Resonanz

-
Über das Ensemble Resonanz
Mit seiner außergewöhnlichen Spielfreude und künstlerischen Qualität zählt das Ensemble Resonanz zu den führenden Kammerorchestern weltweit. In ihren Programmen setzten die Musiker alte und neue Musik, gelegentlich sogar Literatur und Szene in lebendige Zusammenhänge und entwickeln so für echte »Klassiker« wie Franz Schuberts »Winterreise« oder Bachs »Weihnachtsoratorium« eigenständige Interpretationen und fesselnde Neuauflagen. Das 18-köpfige Streichorchester ist demokratisch organisiert und arbeitet ohne festen Dirigenten, holt sich aber immer wieder künstlerische Partner an Bord.
Seit Sommer 2018 ist mit Riccardo Minasi ein langjähriger Freund »Artist in Residence« des Ensembles, mit dem bereits zahlreiche Konzert- und CD-Projekte realisiert wurden. Enge Verbindungen bestehen außerdem zu Partnern wie der Bratschistin Tabea Zimmermann, der Geigerin Isabelle Faust oder dem Cellisten Jean-Guihen Queyras. Auch die Zusammenarbeit mit Komponisten und die Entwicklung eines neuen Repertoires sind ein treibender Motor der künstlerischen Arbeit des Ensembles, das in Hamburg mit der Elbphilharmonie und dem resonanzraum auf St. Pauli zwei sehr unterschiedliche Bühnen bespielt. Die Residenz an der Elbphilharmonie beinhaltet vor allem die Konzertreihe »resonanzen«, das Ensemble setzt hier aber auch mit Kinderkonzerten sowie im Rahmen diverser Festivals Akzente für eine lebendige Präsentation klassischer und zeitgenössischer Musik. Auch in den letzten Monaten durfte sich das Publikum über außergewöhnliche Konzertstreams aus dem Kleinen wie aus dem Großen Saal freuen.
In den resonanzraum im Hochbunker auf St. Pauli laden die Musiker monatlich zu der verschiedenfach ausgezeichneten Konzertreihe »urban string« ein, die von den Ensemble-Mitgliedern gestaltet und im Dialog mit der Musik internationaler DJ-Künstler präsentiert wird.
Johannes Kalitzke – Dirigent

-
Über Johannes Kalitzke
Seit etwa vier Jahrzehnten ist Johannes Kalitzke als Akteur auf den Bühnen der musikalischen Avantgarde präsent. Als Dirigent leitet er regelmäßig bedeutende Uraufführungen, wie 2019 beispielswese die Weltpremiere von Chaya Czernowis Oper »Heart Chamber« an der Deutschen Oper Berlin, und fehlt auch bei großen Festivals wie den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik nicht. Als Mitbegründer vom erfolgreichen Ensemble Musikfabrik etablierte sich der in Köln geborene Musiker schon in jungen Jahren in der Szene der zeitgenössischen Musik und ist seitdem eng mit einigen ihrer wichtigsten Ensembles verbunden, darunter das Klangforum Wien und das Ensemble Modern.
Seinen Durchbruch als Komponist erlebte er 1996 mit seiner ersten Oper »Bericht vom Tod des Musikers Jack Tiergarten« bei der Münchner Biennale. In den Folgejahren feierte er erfolgreiche Uraufführungen an der Oper Bremen, am Theater Heidelberg und am Theater an der Wien. Schwerpunktmäßig beschäftigt sich der mehrfach ausgezeichnete Musiker zudem mit der Komposition von Orchestermusik für expressionistische Stummfilme – »komplexe Klänge, die unter die Haut gehen«, bewundert die Kritik in Österreich.
Neben seinen Arbeiten als Dirigent und Komponist widmet sich Johannes Kalitzke auch mit viel Engagement der Musikvermittlung und Nachwuchsförderung. Er unterrichtet an den Hochschulen in Essen und Hannover, am Mozarteum in Salzburg sowie bei verschiedenen Meisterkursen und Festivals wie der Sommerakademie in Salzburg.
Überleben mit Musik: Xilin Wang
»In Wangs Musik lodert es, brennt es, brüllt es. Sie hat eine unglaubliche Kraft.«
Sofia Gubaidulina
Xilin Wang zählt zu den bedeutendsten Komponisten Chinas. Sein effektvoller und ausdrucksstarker Kompositionsstil bewegt sich jedoch überwiegend unabhängig von chinesischen Traditionen. Wang wurde 1936 in Kaifeng in der chinesischen Provinz Henan geboren. Nach dem frühen Tod seines Vaters, entschied sich der mit seiner Familie in Armut lebende Teenager, einer Künstlergruppe innerhalb der Volksbefreiungsarmee beizutreten. Er studierte Komposition und Dirigieren am Shanghai Conservatory of Music, wo er 1962 mit seiner Ersten Sinfonie einen erfolgreichen Abschluss feierte. Nur ein Jahr später wurde er für seine sinfonische Suite »Yunnan Tone Poem« mit dem höchsten chinesischen Staatspreis ausgezeichnet.
Doch die Zeichen standen in China schon auf Kulturrevolution und noch im selben Jahr änderte sich seine Situation schlagartig: Nach einem öffentlichen Vortrag, in dem er die Kulturpolitik der Regierung kritisierte, geriet der junge Komponist ins Kreuzfeuer der staatlichen Kampagne gegen westliche Kunst. Er wurde prompt aus seinem Amt als Residenzkünstler beim Rundfunkorchester in Peking entlassen, für viele Jahre verbannt und als Zwangsarbeiter in die Stadt Datong geschickt. Dort litt er unter Gefangenschaft und Folter: »Im Oktober 1968 wurde ich von den Leuten fast totgeschlagen. Die Schläge haben meine inneren Energien befreit. Und ich habe mir geschworen: Ich werde überleben.«

Der revolutionäre Komponist und Freigeist, der durch die Misshandlungen zwischenzeitlich sogar einen Teil seines Hörvermögens verlor, fand über die Jahre einen Weg, seine Erlebnisse und Gedanken in der Musik auszudrücken. Über seine Dritte Sinfonie beispielsweise erklärt er: »Das Unrecht belastete mich, der Tod so vieler Menschen. Ich wollte in der Musik nicht nur mein eigenes Schicksal, sondern das Schicksal meiner ganzen Generation widerspiegeln. Ich brauchte zehn Jahre zur Vorbereitung und musste erst die musikalische Sprache finden, um diese Sinfonie schreiben zu können.«
Wang überlebte und kehrte 1978 nach Ende der Kulturrevolution nach Peking zurück. Dort setzte er sich mit den Komponisten der europäischen Avantgarde auseinander. Seine Faszination für diese Musik machte sich unmittelbar auch in seinen eigenen Werken bemerkbar, in denen er seither Ideen des Minimalismus und des Serialismus einbezieht. Als großer Schostakowitsch-Verehrer kombiniert Wang dies häufig mit folkloristischen Elementen, teilweise auch mit traditionellen chinesischen Klängen und Motiven.
Text: Julika von Werder, Stand: 11. Mai 2021
Gefördert durch die Kühne-Stiftung, die Behörde für Kultur und Medien Hamburg, die Stiftung Elbphilharmonie und den Förderkreis Internationales Musikfest Hamburg