Studio Drift: Flylight

Studio Drift: Staunen über die Welt

Mit seinem Kunstwerk »Breaking Waves« inszeniert das Künstlerduo im Frühjahr 2022 auf spektakuläre Weise die Fassade der Elbphilharmonie.

Eine Lichtinstallation aus hunderten von Pusteblumen, die, sanft von innen heraus leuchtend, in einem Bronze-Gitter zu schweben scheinen: Mit »Fragile Future« haben die Niederländerin Lonneke Gordijn und der gebürtige Engländer Ralph Nauta ein Design-Meisterstück aus Schaltkreisen und Löwenzahnsamen, Phosphorbronze, LED-Lampen und Plexiglas geschaffen, das typisch ist für das Selbstverständnis ihres Studio Drift. Die ganze Natur steckt voll ausgeklügelter Technik. Jeder Löwenzahn ist ein winziges Kunstwerk. Dass es eine Heidenarbeit ist, Löwenzahnblüten an kleinen LED-Glühbirnen zu befestigen, sieht man dem Werk nicht an – es strahlt endlose Leichtigkeit aus. Doch die Arbeiten von Studio Drift baden nicht in der eigenen Schönheit. Sie denken über die Zukunft nach, über Natur und Technik – und stellen die Frage, ob technologischer Fortschritt das Gleichgewicht der Natur gefährdet. Als »kritische und zugleich utopische Vision über die Zukunft unseres Planeten« haben die beiden Künstler ihre »Fragile Future«- Serie beschrieben.

Studio Drift in Hamburg erleben

Das Künstlerduo lässt mit einer Lichtskulptur die Gebäudefassade der Elbphilharmonie erstrahlen.

Studio Drift: Fragile Future
Studio Drift: Fragile Future © DRIFT

Natur, Technik, Mensch

Im Amsterdamer Stedelijk Museum war das Gesamtwerk von Studio Drift 2018 zum ersten Mal in einer großen Einzelausstellung zu sehen. Unter dem Titel »Coded Nature« wurde hier der künstlerische Kern dieses 2006 in Amsterdam gegründeten Studios offenbar: Die Objekte und Installationen des Duos sind nicht nur von berauschender Schönheit, sondern situieren sich schwebend, frei und irrlichternd im Zentrum zwischen den Begriffen Natur, Technik und Mensch. Im Grunde funktionieren alle Arbeiten ähnlich: Es ist die Simulation von Vorgängen aus der Natur, die Studio Drift zur schillernden Kunst machen. Damit reihen sie sich ein in eine lange Tradition, die Kunst und Natur nicht erst seit den Blüten des Jugendstils als zusammengehörig sieht. 2004 war im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe die Ausstellung »Natur ganz Kunst« zu sehen, in deren Katalog damals zu lesen stand, wie uns die Natur ein Leben lang gefangen hält: »Wohl jeder kennt aus seiner Jugend den Umgang mit Kastanien, Bucheckern, Tannenzapfen, am Strand gesammelten Muscheln oder bunten Steinen. Es scheint, als begleite uns die Nostalgie nach diesen einfachen Dingen ein Leben lang.«

Mini-Dokumentarfilm des Stedelijk Museums über das Studio Drift

Eben das ist das Prinzip von Studio Drift, wie auch an der Lichtinstallation »Shylight« deutlich wird: eine Art Ballett schüchterner leuchtender Blüten, die sich steuerbar öffnen und wieder schließen, die sich via Lichttechnologie ständig entblättern und wieder zurückziehen. Auch hier ist die Natur mit ihrer hochentwickelten Technik der Nyktinastie Vorbild für ein Kunstwerk aus vielen Lagen dünner Seide, dessen Eingängigkeit nicht dazu führen sollte, es in seiner Tiefe zu unterschätzen. Eine andere faszinierende Arbeit ist »Ego«, eine Operninstallation, die 2020 für eine Inszenierung der Niederländischen Reiseoper von Claudio Monteverdis »L’Orfeo« entwickelt wurde: Aus 16 Kilometern feiner Fluorcarbon-Schnur entstand eine silbrige Wolke, die über dem Ensemble schwebt, sich in ihrer Form stetig verändert und so Teil der Handlung wird – eine flexible Struktur, ein räumliches, wandelbares Kunstwerk, eine kinetische Installation, die über Motoren mittels Software gesteuert wird. Doch die ganze Technik sieht und hört man nicht: Man betrachtet das räumliche Netz, das sich mal fein und leicht, mal schwer und massiv präsentiert – glänzender, glitzernder, silbriger Illusionismus.

Studio Drift: Shylight Studio Drift: Shylight © Ossip
Studio Drift: EGO Studio Drift: EGO © Ossip van Duivenbode

Dialog der Gegenwelten

Die Philosophie hinter den Werken von Studio Drift ist stets der »Dialog der Gegenwelten«. Die beiden Designer finden eine originäre Sprache, indem sie Natur und Technik, Ratio und Intuition, Wissenschaft und Poesie kreuzen. So wie noch der Geist der Romantik aus diesen Werken zu strömen scheint, eine romantische Naturvorstellung, ein jugendstilhafter Sinn für das Dekorative, eine reine Sehnsucht nach dem Schönen, Unvergänglichen, so steckt doch auch immer jede Menge Science-Fiction in diesen Werken, die Lust an der Technik, ein großes Ja zur Zukunft. Eines der größten Projekte bisher war »Franchise Freedom«, das erstmals 2017 am Strand von Miami Beach realisiert wurde: ein Schwarm von 300 leuchtenden Drohnen, eine Flugskulptur, die den natürlichen Flug eines Vogelschwarms nachahmt: die Imitation des Lebens, schon 2001 besungen von der Band R.E.M., gesteuert von dezentralisierten Algorithmen, die sich ein Beispiel an den Flugbewegungen der Stare nehmen. Was ist wichtiger? Die Freiheit des Einzelnen oder die Sicherheit in der Gruppe? Auch das fragt Studio Drift in diesem Werk, das im vergangenen Jahr in einer großen Schau im Mint Museum in Charlotte, North Carolina, zu sehen war.

 

DRIFT
DRIFT © Teska van Overbeeke

»Die Welt selbst ist eine große Ausstellung. Sie müssen nur hinsehen. Bei Studio Drift möchten wir die Wunder darstellen, die uns in unserer Natur umgeben.«

Lonneke Gordijn

 

»Immersed in Light: Studio Drift at the Mint« war die erste Museumspräsentation für Studio Drift außerhalb Europas und zeigte die großen Installationen des Duos, das heute 20 Mitarbeiter beschäftigt, mit universitären Forschungseinrichtungen zusammenarbeitet und sich gleichermaßen als Künstlerkollektiv wie als technisches Startup versteht. Annie Carlano, die leitende Kuratorin für Design und Mode am Mint Museum, resümiert das Werk der Niederländer: »Ihre Erkundungen von natürlichen und übernatürlichen Phänomenen nehmen uns mit auf eine emotionale Reise von ›Wow‹ bis ›Wunder‹.«

Dieses Staunen über die Welt hat auch Lonneke Gordijn selbst immer wieder als Motor ihrer Arbeit identifiziert: »Die Leute finden die Zeit, sich Kunst in einer Galerie anzusehen, aber die Welt selbst ist eine große Ausstellung. Sie müssen nur hinsehen. Bei Studio Drift möchten wir die Wunder darstellen, die uns in unserer Natur umgeben.« Und weiter: »Unser Ziel ist es, einen Dialog zwischen Natur und Technik zu schaffen, eine perfekte Kombination aus Wissen und Intuition, Science- Fiction und Natur, Fantasie und Interaktivität. Wir hoffen, die Menschen zu ermutigen, Dinge zu bemerken, die sie nicht mehr bemerken … Wenn die Leute auch ohne künstlerischen Hintergrund verstehen können, was wir ausdrücken wollen, dann sind wir erfolgreich.«

Franchise Freedom beim Burning Man Festival 2018

Realität und Simulation

Eine der überraschendsten Arbeiten des Duos ist der große »Drifter«, ein riesiger schwebender und sich dabei langsam drehender Betonblock. Wie geht das? Ist es Zauberei? Wie kann etwas so Schweres so leicht wirken? Auch dieses Werk berührt grundlegende Fragen: Mit dem Voranschreiten der technischen Möglichkeiten der Digitalisierung ist das illusorische Erlebnispotenzial immer umfassender geworden. Die Rolle, welche die Kunst hierbei spielt, wird in der Kunstszene derzeit vehement diskutiert: Bildet sie die neuen technischen Möglichkeiten nur ab, lässt sie uns in virtuelle Welten abgleiten – oder formuliert sie Kritik und zeigt Alternativen auf? Die Kunst von Studio Drift hat utopisches Potenzial. Sie rührt an zentrale Fragen der Conditio humana: Wie findet man sich in einer simulierten Welt zurecht? Wie unterscheidet man Realität und Simulation? Befindet sich die Natur in einem Wettstreit mit digitalen Systemen?

Studio Drift: Coded Nature exhibition Stedelijk Museum 2018
Studio Drift: Coded Nature exhibition Stedelijk Museum 2018 © Ronald Smits

All diese Fragen kann man sich beim Staunen über den »Drifter« stellen. Studio Drift lässt uns abdriften in die Welt der Wunder. Wie der »Drifter« funktioniert, wissen wir nicht. Womöglich ist er federleicht. Natürlich gibt es eine technische Erklärung, doch wir müssen sie nicht kennen. In Helsinki, im Amos Rex Art Museum, wurde das Werk von Studio Drift vor Kurzem gemeinsam mit dem des belgischen Surrealisten René Magritte (1898–1967) gezeigt. Und das nicht ohne Grund: Auch Studio Drift erschafft Träume, evoziert Ungläubigkeit. Ein Betonklotz, der schwebt, das gibt’s doch gar nicht. Oder doch? Frei nach Magritte: Ceci n’est pas un bloc de béton.

 

Text: Marc Peschke

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