THE BEATLES: LUCY IN THE SKY WITH DIAMONDS (1967)
»Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen«, befand angeblich einst Helmut Schmidt. Das sehen viele Menschen genau andersherum: Sie greifen zur Pharmazie, wenn sie Visionen haben wollen. Besonders schwer in Mode gerieten psychotrope Substanzen im Zuge der Hippie-Bewegung, als selbsternannte Gurus in bunt bemalten Bussen durchs Land fuhren und neben der freien Liebe auch die freie Verfügbarkeit von Drogen propagierten. Wie es der Zufall wollte, brachten die Beatles im »Summer of Love« 1967 den Hit »Lucy in the Sky with Diamonds« heraus, enthalten auf dem psychedelischen Album »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band«. Angeblich basierte der Song auf einem Kinderbild von John Lennons Sohn Julian, vielleicht auch auf »Alice im Wunderland«. Aber, so Lennon: »Ich schwöre bei Gott oder bei Mao oder bei wem auch immer Sie wollen, dass ich keine Ahnung hatte, dass man den Titel L.S.D. abkürzen kann.«
»Die Realität überlässt vieles der Fantasie.«
John Lennon
HILDEGARD VON BINGEN: SYMPHONIA ARMONIE CELESTIUM REVELATIONUM (UM 1150)

Hildegard von Bingen empfängt eine göttliche Inspiration und gibt sie an ihren Schreiber weiter. (Bild um 1180)
»Es geschah im Jahr 1141, als ich 42 Jahre alt war: Da kam aus dem geöffneten Himmel ein feuriges Licht von gewaltigem Glanz; es durchströmte mein ganzes Gehirn und entzündete mein Herz. Und sogleich erlangte ich Einsicht in die Auslegung des Psalters, des Evangeliums und der anderen katholischen Bücher.« So beschrieb Hildegard von Bingen eine ihrer vielen Visionen. Ja, klar, denkt der aufgeklärte Mensch von heute und belächelt solche Berichte als Scharlatanerie oder wenigstens als Missverständnis – der Neurologe Oliver Sacks etwa meint, Hildegard hätte einfach Migräne gehabt. Im Mittelalter aber war die Berufung auf göttlichen Input für eine Frau mit Ambitionen die einzige Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen. Das gelang Hildegard ausgezeichnet: Sie gründete ihr eigenes Kloster, schrieb Bücher über Theologie und Medizin und komponierte einige so klangvolle wie vertrackte gregorianische Gesänge.
POTTIER / DEGEYTER: DIE INTERNATIONALE (1871/1888)
»Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger! Alles zu werden, strömt zuhauf!«
Die Internationale
Arbeiter, Gewerkschaftsfunktionäre und andere politische Aktivisten aus ganz Europa trafen sich am 28. September 1864 in der 3.000 Plätze fassenden St. Martin’s Hall in London, um gemeinsam die erste Internationale Arbeiterassoziation aus der Taufe zu heben. Ihr Ziel: die globale Vernetzung des Proletariats, letztlich die Weltrevolution. (Mit von der Partie war auch ein deutscher Journalist namens Karl Marx, den so ziemlich jedes Land schon seiner rebellischen Ansichten wegen ausgewiesen hatte.) Doch es dauerte noch einige Jahre, bis die Bewegung ihre eigene Hymne erhielt. Den Text lieferte der Franzose Eugène Pottier wutentbrannt, nachdem 1871 ein sozialistischer Putsch in Paris blutig niedergeschlagen worden war; die Melodie steuerte später der Belgier Pierre Degeyter bei, Dirigent des Arbeitergesangsvereins von Lille. »Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!« schallte es seither aus jedem Ostblock-Staat – und bis heute von JuSos, Linken und unerhörterweise sogar 2019 auf dem Parteitag der SPD.
SUN RA: SPACE IS THE PLACE (1972)
Wenn Menschen dunkler Hautfarbe auf der ganzen Erde unterdrückt werden, könnte die Lösung dann im Weltraum warten? Was heute esoterisch-eskapistisch klingen mag, erschien in den Siebzigern unter dem Eindruck der Mondlandung und des Space Age als greifbare Utopie. Den Soundtrack zu dieser »Afrofuturismus« genannten Strömung lieferte der Jazzer Herman »Sonny« Blount aus Alabama – besser bekannt unter seiner Kunstidentität Sun Ra, angelehnt an den ägyptischen Sonnengott. Aus der Swing-Szene stammend, führte er seine eingeschworene, bis heute aktive Big Band Arkestra in völlig neue Sphären aus Bebop, Free Jazz und Electro. Zu erleben etwa auf dem Studioalbum »Space is the Place« und im gleichnamigen, selbst produzierten Sci-Fi-Film.
CHARLES IVES: UNIVERSE SYMPHONY (1915)
»Vielleicht soll Musik gar nicht den seltsamen menschlichen Wunsch nach Eindeutigkeit befriedigen. Eigentlich hoffe ich, dass Musik immer eine geheimnisvolle Sprache sein wird.«
Charles Ives
Nicht die Moldau, nicht die Planeten, nein, gleich das ganze Universum wollte der amerikanische Komponist Charles Ives mit seiner 5. Sinfonie nachzeichnen: »den mysteriösen Ursprung aller Dinge, die Evolution des Lebens von der Natur über den Menschen bis hin zur spirituellen Ewigkeit«, wie er schrieb. Um den »ewigen Puls und die Bewegung des Planeten« spürbar zu machen, sollten mehrere Orchester und Chöre in Tälern, auf Berghängen und Gipfeln musizieren; ein Kollege errechnete eine ideale Besetzungsgröße von 4.520 Musikern. Nun, um die Aufführbarkeit seiner Werke hatte sich Ives noch nie groß gekümmert – als erfolgreicher Versicherungsmakler verdiente er seine Brötchen anderswo. Leider blieb die »Universe Symphony« unvollendet. Doch mit Polyrhythmik, Atonalität, serieller Komposition und Collagetechnik nahm er viele vermeintliche Errungenschaften der 1950er-Jahre-Avantgarde vorweg.
In einer Notiz zur Sinfonie forderte Ives zukünftige Komponisten auf, das Werk zu vollenden. Der amerikanische Dirigent und Komponist Larry Austin hat über 20 Jahre daran gearbeitet und erklärt sein Verständnis des Stückes in einem kurzen Video.
KARLHEINZ STOCKHAUSEN: WELT-PARLAMENT (1997)
Unter all den visionären Kreativköpfen, die die Musikgeschichte so hervorgebracht hat, war Karlheinz Stockhausen sicher einer der größten, entrücktesten, manche sagen: verrücktesten. Ganze 29 Stunden Spielzeit umfasst sein siebenteiliger Opernzyklus »Licht«. Darin enthalten ist auch ein Akt mit dem Titel »Welt-Parlament«, in dem eine Art KünstlerVollversammlung in einem Sitzungssaal hoch über den Wolken hingebungsvoll über die Liebe diskutiert, bis der Präsident hinunter auf die Straße gerufen wird, weil sein Auto abgeschleppt zu werden droht. Zum Glück wird er würdig von einem Koloratursopran vertreten. Das Ganze könnte man locker als Parodie auf die UNO verstehen, deren Wirken auf das Weltgeschehen ja auch oft an ärgerlichen kleinen Details scheitert – hätte Stockhausen, die Zukunft der Menschheit stets im Blick, den Abschnitt nicht allen Ernstes als »Tag der Vereinigung, der Zusammenarbeit und des Verständnisses« überschrieben.
»Die berühmte deutsche Kultur ist nichts anderes als der letzte Coca-Cola-Abklatsch.«
Karlheinz Stockhausen
JON HASSELL / BRIAN ENO: FOuRTH WORLD VOL. 1: POSSIBLE MUSICS (1980)
»Um die Welt interessant zu machen, muss man sie ständig manipulieren.«
Brian Eno
Klänge zu erschaffen, ohne ein Instrument zu beherrschen oder mit Tinte und Feder komponieren zu müssen, diese Vision ist in den letzten 100 Jahren Wirklichkeit geworden – dank der elektronischen Musik. Hantierte man früher noch mit Oszillografen und Lötkolben, genügt heute ein Smartphone. Niemand verkörpert diese Entwicklung so wie Brian Eno, der Erfinder der sphärischen Ambient Music und Produzent von David Bowie, den Talking Heads und U2. (Übrigens gestaltete er auch eine Klanginstallation zur Eröffnung der Elbphilharmonie.) Seine Soundexperimente während der Siebzigerjahre kulminierten 1980 in dieser Platte mit dem Trompeter und Stockhausen-Schüler Jon Hassell, die auf raffinierte Weise hypermoderne Synthesizerschwaden mit ethnomusikalischen Einflüssen kombiniert und so eine »Vierte Welt« beschwört.
Text: Clemens Matuschek, Stand: 09.12.2020
Elbphilharmonie Visions
Unter dem Motto »Visionen« steht auch ein neues Festival in der Elbphilharmonie, das sich ganz der Neuen Musik widmet.
Dies ist ein Artikel aus dem Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 03/2020), das drei Mal pro Jahr erscheint.