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Sofia Gubaidulina im Portrait

Freiheit in den Augen: Über die im besten Sinne überwältigende Musik der russischen Komponistin.

Text: Simon Chlosta, 22. Februar 2024

 

Das vielleicht schönste Zitat über Sofia Gubaidulina stammt vom Dirigenten Simon Rattle: Sie sei wie ein »fliegender Einsiedler«, denn sie befinde sich immer »auf einer Umlaufbahn und besucht nur gelegentlich terra firma. Ab und zu kommt sie zu uns auf die Erde und bringt uns Licht und geht dann wieder auf ihre Umlaufbahn.« Wer der mittlerweile 92-jährigen Komponistin einmal begegnen durfte, bekommt eine Ahnung davon, was Rattle gemeint haben könnte: Gubaidulina scheint in ihrer eigenen Welt zu leben; es umgibt sie eine tiefe Aura, wie sie nur ganz große Künstlerinnen und Künstler besitzen, zugleich wirkt sie unnahbar, fast scheu. Eigentlich kaum zu glauben, dass aus den Gedanken dieser zierlichen Person derartige Klänge entstehen. Ihre Werke sind oft düster und gewaltig, verlangen einen riesigen Orchesterapparat – Überwältigungsmusik im besten Sinne.

Im Fokus: Sofia Gubaidulina

Das Internationale Musikfest Hamburg 2024 widmet Sofia Gubaidulina einen besonderen Schwerpunkt – mit hochkarätig besetzten Kammermusik-Programmen und großen Orchester-Konzerten.

Sofia Gubaidulina

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Sofia Gubaidulinas Klavier
Sofia Gubaidulinas Klavier Sofia Gubaidulinas Klavier © Melina Mörsdorf Photography

Die Frage der Freiheit

Geboren wurde Sofia Gubaidulina 1931 in Tschistopol in der autonomen russischen Republik Tatarstan. Sie studierte in Kasan und am Moskauer Konservatorium und ist seit 1963 als freischaffende Komponistin tätig. In der Sowjetunion fanden ihre Werke jedoch kaum Beachtung und wurden zeitweise mit einem Aufführungsverbot belegt – sie entsprachen nicht den Vorgaben des Sozialistischen Realismus, der jede Form von Abstraktion ablehnte. Ihren Lebensunterhalt verdiente Gubaidulina in dieser Zeit unter anderem mit Filmmusik. 

Es war Dmitri Schostakowitsch, der sie ermutigte, auf ihrem »Irrweg« weiterzugehen. Politischer Aktivismus stand für sie dabei allerdings nicht im Vordergrund. »Es war vielmehr eine ideologische Angelegenheit. Es ging um die Frage der Freiheit«, erzählte sie bei einem Gespräch vor vier Jahren. »Ohne die hätte ich als Komponistin nicht weiterleben, ohne eine freie Seele nicht schreiben können. Da gab es nur ein Entweder-oder. Aber eine freie Tätigkeit war in diesem Regime nicht möglich. Ich war nicht gefährlich, das Problem war nicht meine Musik, die war eigentlich egal. Aber der Wunsch nach Freiheit lag in meinen Augen.« 

Dmitri Schostakowitsch
Dmitri Schostakowitsch © Archiv für Kunst und Geschichte Berlin

Längst muss Gubaidulina nicht mehr um Anerkennung kämpfen. Ihre Musik wird von Dirigenten wie Christian Thielemann und eben Simon Rattle geschätzt und von Orchestern wie den Berliner Philharmonikern und dem Gewandhausorchester Leipzig aufgeführt. Das Online-Magazin »Bachtrack« hat sie gerade erst zur meistgespielten Komponistin der Welt gekürt. Doch auch unabhängig vom Geschlecht zählt sie zu den meistgeehrten klassischen Musikschaffenden, sie wurde mit Preisen wie dem schwedischen Polar Music Prize und dem japanischen Praemium Imperiale ausgezeichnet; in Deutschland erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Ihre Trophäen muss man in ihrem Wohnzimmer jedoch regelrecht suchen. Spricht man sie darauf an, beginnen ihre Augen trotzdem zu strahlen. Stolz zeigt sie ihren Besuchern den Goldenen Löwen der Musik-Biennale Venedig und die Goldmedaille der Royal Philharmonic Society London.

Sofia Gubaidulina Sofia Gubaidulina © Melina Mörsdorf Photography
Sofia Gubaidulina Sofia Gubaidulina © Melina Mörsdorf Photography

Nur keine Ablenkung

Bereits seit 1992 lebt die Komponistin in einem von Bäumen umringten Haus in Appen, einer kleinen Gemeinde nordwestlich von Hamburg. Ihr Nachbar war der 2012 verstorbene russische Komponist Viktor Suslin, mit dem sie in den Siebzigerjahren eine Improvisationsgruppe gründete. Seine Witwe, die Klavierpädagogin Julia Suslin, lebt noch heute dort. Gubaidulina selbst war dreimal verheiratet; ihre Tochter, an die ein Bild im Wohnzimmer erinnert, verstarb bereits vor einigen Jahren.

Appen hat sich Gubaidulina vor allem wegen der Nähe zu ihrem Verlag Sikorski ausgesucht – und weil ihr dieser entlegene Ort die nötige Freiheit und Ruhe für ihre Arbeit gibt. »Ich brauche Stille und Einsamkeit«, so die Komponistin, die die »Befreiung vom alltäglichen Leben« als die wichtigste Voraussetzung bezeichnet. »Nur wenn es gelingt, aus dem Alltag herauszutreten, kommt es zum Imaginären.« Ihre Kompositionen entstehen dabei ausschließlich am Schreibtisch. An ihren Flügel, den ihr einst Mstislaw Rostropowitsch schenkte, setzt sie sich nur noch, »wenn es die Zeit erlaubt«. Ansonsten äußert sich Gubaidulina, die auch Deutsch spricht, nur ungern über ihre Musik. Erst recht nicht während des Kompositionsprozesses, in dem sie sich nach eigener Aussage vollständig für das Werk aufopfert – nur keine Ablenkung! 

Anne-Sophie Mutter
Anne-Sophie Mutter © Kristian Schuller

Gesagt und geschrieben wurde über ihre Musik trotzdem viel. Sie sei »verkopft, aber ohne, dass dieser Kopf je im Vordergrund steht«, sagte etwa Anne-Sophie Mutter, die Widmungsträgerin ihres Zweiten Violinkonzerts »In tempus praesens« aus dem Jahr 2007 – und spielte damit einerseits auf die mathematischen Konzepte an, die Gubaidulina ihren Kompositionen zugrunde legt, andererseits auf die enorme emotionale Wirkung, die diese Musik trotz ihres Intellekts stets ausstrahlt. Ihre Klänge berauschen und entfalten eine suggestive Kraft, sind aber niemals plakativ. Und obwohl die Schöpferin meist auf traditionelle Kompositionsformen und -methoden zurückgreift, klingt ihre Musik auf bemerkenswerte Weise neu. 

Glaube als Inspiration

Fast immer kreisen Gubaidulinas Werke um ihr zentrales Lebensthema, ihren Glauben. »Ich kann mir keine Kunst vorstellen, die sich nicht zum Himmel, zum Vollkommenen, zum Absoluten wendet«, hat sie einmal ihr musikalisches Credo beschrieben. 1970 ließ sie sich russisch-orthodox taufen. Ihre Verbundenheit mit dem göttlichen Kosmos prägt ihr gesamtes Schaffen und offenbart sich in zahlreichen religiös inspirierten Werktiteln. So bereits bei ihrem Ersten Violinkonzert »Offertorium«, das die damals 50-Jährige 1981 für Gidon Kremer schrieb und das für sie den internationalen Durchbruch bedeutete. In Hamburg ist nun ihr erst 2022 uraufgeführtes Orchesterwerk »Der Zorn Gottes« zu hören, in dem Gubaidulina mit geradezu apokalyptischen Klängen eine musikalische Erzählung des Jüngsten Gerichts entwirft. 

Wenn nicht unmittelbar religiös, dann sind ihre Kompositionen meist von Dichtung inspiriert. Ihr Drittes Violinkonzert etwa trägt den Titel »Dialog: Ich und Du« (2018) und bezieht sich auf das gleichnamige Buch Martin Bubers aus dem Jahr 1923, in dem der jüdische Philosoph und Theologe die Beziehungen von Menschen beschrieb. Oft sind Gubaidulinas Quellen aber noch viel älter. In der außergewöhnlichen Besetzung für Chor, Cello und Schlagzeug vertonte sie 1997 mit dem die Schöpfung preisenden »Sonnengesang« des Heiligen Franz von Assisi aus dem 13. Jahrhundert das älteste bekannte Zeugnis der italienischen Literatur. 

Chorus sine nomine interpretiert Gubaidulinas »Sonnengesang«

Auch bei ihrem Vierten Streichquartett handelt es sich um eine – wenn auch sehr abstrakte – »musikalische Reaktion auf die schöpferische Welt« eines Literaten, nämlich T. S. Eliot. Dessen Gedanken über »die Geburt des ›echten Echten‹ aus dem ›unwirklich Künstlichen‹« übersetzt Gubaidulina in verschiedene, zum Teil vom Quartett vorab auf Tonband aufzuzeichnende Klangschichten, die zudem um Farblicht-Projektionen ergänzt werden. Das Kronos Quartet hat diese innovative Synthese aus Klang und Licht 1993 in der New Yorker Carnegie Hall uraufgeführt  (und kommt damit nun zur Feier seines 50. Jubiläums auch in die Elbphilharmonie). 

Gubaidulinas besondere Vorliebe für düstere, tiefe Klangfarben wiederum zeigt sich etwa bei ihrem Konzert für Fagott und tiefe Streicher (1975), ebenso bei dem einsätzigen Werk »Am Rande des Abgrunds« (2003) für sieben Celli und zwei mit Wasser gefüllte Aquaphone, deren Klang an Walgesänge erinnert. Zugleich steht dieses Stück exemplarisch für Gubaidulinas Interesse an einem Instrumentarium, das über die traditionelle Orchesterbesetzung hinausgeht; die Komponistin selbst besitzt eine ganze Sammlung außereuropäischer Instrumente und greift auf diese auch regelmäßig in ihren Arbeiten zurück. 

Autograf von Sofia Gubaidulina
Autograf von Sofia Gubaidulina © Melina Mörsdorf Photography

Trotz all der Anerkennung und des persönlichen Erfolgs blickt Gubaidulina eher pessimistisch auf die Gegenwart. »Warum ist der Hass in der Welt so gewachsen, obwohl das Leben doch eigentlich durch den technologischen Fortschritt immer leichter für den Menschen wird?« Auch aus diesem Grund hat sie vor einigen Jahren das Oratorium »Über Liebe und Hass« geschrieben, das 2016 in Tallinn zur Uraufführung kam und als ihr Opus summum gilt. »Ich habe sehr alte Texte aus der Bibel gewählt, um etwas Allgemeingültiges zu schaffen und zu zeigen, dass die Gegensätze Liebe und Hass schon immer existiert haben. Allerdings scheint mir diese Diskrepanz heute unüberwindbarer als in der Vergangenheit.« 

Liebe dorthin tragen, wo Hass regiert – so hat sie einmal ihr künstlerisches Anliegen beschrieben. Und wenn sie das schon nicht politisch verstanden wissen möchte, so ist es doch zutiefst menschlich. 

 

Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 2/24).

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