Seung-Won Oh

Seung-Won Oh im Interview

Ihr Orchesterwerk »Spiri III: Sacred Ritual« widmet die südkoreanische Komponistin der großen Sofia Gubaidulina, die im März 2025 verstorben ist.

Interview: Ivana Rajič, 26. März 2025

 

Die international renommierte Komponistin Seung-Won Oh wurde in Südkorea geboren und studierte in Seoul, den USA und Den Haag, wo sie heute lebt. Einige Wochen vor der deutschen Premiere ihres Orchesterwerks »Spiri III: Sacred Ritual« am 1. April 2025 im Großen Saal der Elbphilharmonie nahm sie sich die Zeit für ein Gespräch: über ihre Verbindung zu der berühmten russischen Komponistin Sofia Gubaidulina, ihre Spiritualität und ihr neues Werk.


 

Seung-Won Oh
Seung-Won Oh © Hegedűs Bence


 

»Spiri III: Sacred Ritual« wurde vom Royal Concertgebouw Orchestra in Auftrag gegeben und wird in der Elbphilharmonie unter der Leitung von Klaus Mäkelä aufgeführt. Wie sah die Zusammenarbeit mit diesen fantastischen Musiker:innen aus?

Im November 2023 hatte ich die Gelegenheit, Klaus Mäkelä persönlich zu treffen. Bei diesem Treffen zeigte ich ihm das erste Werk der Trilogie, »Spiri I«, das zu diesem Zeitpunkt bereits vollendet, jedoch noch nicht uraufgeführt war. Ich fragte ihn, ob er Anregungen für »Spiri III« hätte. Seine Antwort war schlicht: »Tu, was du tun möchtest.« Für dieses Vertrauen bin ich sehr dankbar, denn es ist ein Zeichen echter Unterstützung für meine künstlerischen Ziele und meine eigene Stimme als Komponistin.

Was berücksichtigen Sie bei der Komposition eines solchen Auftragwerks?

Das Entscheidende bei der Arbeit an einem Auftragswerk ist für mich die Struktur der Komposition. In dieser Hinsicht sehe ich mich eher als Bildhauerin denn als Malerin. Zunächst überlege ich, mit welchen Instrumenten oder Musiker:innen ich arbeite. Dann denke ich über die Dauer des Stücks nach – sie ist für mich wie eine musikalische Leinwand. Schließlich versuche ich, das Werk in einen größeren Zusammenhang einzubetten, in das Programm des Konzerts oder ein übergeordnetes Thema. Diese Rahmenbedingungen sind für mich sehr wichtig, denn ohne sie gäbe es unendlich viele Richtungen, in die man sich verlieren könnte. Ich bemühe mich, diese Einschränkungen als kreative Chance zu begreifen. Beim Konzert in der Elbphilharmonie wird mein Stück vor Sofia Gubaidulinas »Offertorium« und Robert Schumanns 4. Sinfonie aufgeführt. Ich wurde gebeten, sofern möglich, eine Verbindung zu diesen beiden Werken herzustellen.

 

Schumann: Sinfonie Nr. 4

Jetzt reinhören!

Robert Schumann
Robert Schumann Robert Schumann © Wikimedia Commons

Und wie sieht diese Verbindung zu den beiden Werken von Gubaidulina und Schumann aus?

Beim Studium beider Werke richtete sich meine Aufmerksamkeit schnell auf Sofia Gubaidulinas »Offertorium«. Rückblickend sehe ich jedoch auch im kraftvollen Auftakt von Schumanns Vierter Sinfonie – mit dem vollen Orchesterklang – eine unverkennbare Verbindung zu den Glockenrufen, mit denen »Spiri III« beginnt. Alle weiteren Bezüge zu Schumanns Werk sind vermutlich das Resultat einer tief verinnerlichten Wertschätzung, weniger Ausdruck eines bewusst entwickelten kompositorischen Konzepts.

»Spiri III« beginnt im Vergleich zu den anderen Stücken der »Spiri«-Serie relativ heiter und leicht. Das hängt natürlich damit zusammen, dass es als Einleitung zu einem gewichtigen Violinkonzert gedacht ist. Doch etwa nach zwei Dritteln der Komposition vollzieht sich ein dramatischer Wandel – beinahe so, als sei das Werk bereits zu Ende und ein ganz neues Kapitel beginne. An diesem Punkt treten zentrale Elemente der »Spiri«-Trilogie in Erscheinung und führen das Gesamtwerk zu seinem Abschluss. Ganz konkret gibt es im letzten Viertel ein kurzes Zitat aus Gubaidulinas »Offertorium«, vorgestellt von den tiefen Streichern. Im Original spielt die Solovioline einen ausdrucksstarken Ton auf der tiefen G-Saite, akzentuiert von Klavier und Harfe. Für mich klingt dieser Moment wie ein musikalisches »Amen«. Sobald in Spiri III der Blechbläser-Choral verklungen ist, kommt dieses »Amen«-Zitat. Wenn man »Offertorium« anschließend hört, wird man diese Stelle sicher wiedererkennen.

Am 13. März 2025 verstarb die Komponistin Sofia Gubaidulina; das Konzert ist ihrem Andenken gewidmet. Welche Beziehung haben Sie zu ihr und zu ihrer Musik?

Ihr Tod macht dieses Projekt für mich sehr emotional. Wir haben uns zwar leider nur ein einziges Mal persönlich getroffen, 2011 im Concertgebouw in Amsterdam – auch damals wurden Werke von uns beiden gemeinsam aufgeführt. Wir sprachen kein Wort miteinander – sie sprach kein Englisch, ich kein Deutsch. Seitdem habe ich immer mehr über die Tiefe, Richtung und Bedeutung ihrer Musik verstanden. Anfangs dachte ich, »Spiri III« würde stärker von Olivier Messiaens Musik beeinflusst sein – auch weil »Spiri I« ursprünglich vor seiner »Turangalîla-Sinfonie« im Jahr 2022 aufgeführt werden sollte, etwa zur gleichen Zeit, als der Auftrag des Concertgebouw Orchestra entstand. Am Ende hat jedoch Gubaidulinas Werk diese Komposition tief geprägt. Sie ist für mich zu einem bedeutenden Vorbild geworden.

Während der Komposition von »Spiri III« habe ich Gubaidulinas Violinkonzert »Offertorium« sicher hundertmal gehört. Es begleitete mich durch den Alltag. Erst als ich das gesamte Werk auswendig kannte, begann ich, die Partitur zu studieren. Ich spüre in dieser Musik ihren Glauben – eine tiefe, ehrliche Verbindung zwischen künstlerischer Hingabe und spiritueller Überzeugung. Durch Interviews und Dokumentationen lernte ich sie nach und nach besser kennen. Das hat meine Wertschätzung für ihre Musik weiter vertieft – und mir gezeigt, dass ich mich womöglich auf einem ähnlichen Weg befinde.

 

Sofia Gubaidulina: »Offertorium«

 

Was hat »Spiri III« abgesehen von der Programmzusammenstellung des Konzerts inspiriert?

Eine zentrale Inspirationsquelle war mein früheres Werk »YeonDo« – ein Requiem, das ich 2020 für Altstimme, Männerchor, ein Schlagzeugquartett und Kammerorchester komponiert habe. Durch die pandemiebedingten Verschiebung der Uraufführung geriet es unversehens zu einer Hommage an meinen Vater, der zu dieser Zeit verstarb, was mich sehr beschäftigt hat. Obwohl ich katholisch getauft und aufgewachsen bin, betrachte ich das Leben jenseits des Todes nicht als Ende, sondern als Neubeginn. Diese Perspektive ließ in mir die Vorstellung reifen, dass unsere Zeit auf der Erde nur ein flüchtiger Moment im unermesslichen Raum des Universums ist – eingebettet in einen fortlaufenden Zyklus. Dieses Denken beeinflusste »Spiri III« ebenso wie die beiden anderen Teile, die gemeinsam eine Trilogie bilden.

Ein zentrales musikalisches Element des Stücks ist eine Fünfton-Harmonie, gebildet aus weißen Tasten. Durch Umkehrungen und Transpositionen dieses Akkords bewahre ich seine Intervallstruktur, gebe ihr jedoch jedes Mal eine neue, frische Bedeutung. Dieses sich wiederholende harmonische Muster – meine »Chaconne« – bildet das klangliche Rückgrat der gesamten Trilogie. In »Spiri I: Stained Ritual« ist diese Harmonie zunächst kaum wahrnehmbar. In »Spiri II: Sheltered Ritual« tritt sie vorsichtig an die Oberfläche. Und in »Spiri III: Sacred Ritual« schließlich erscheint sie in ihrer vollständig entwickelten, beinahe geläuterten Form. Diese gestalterische Idee war der Ausgangspunkt für die Serie, als ich 2023 mit der Arbeit an der Trilogie begann.

Auf welche Weise sind die drei Stücke der Trilogie sonst noch miteinander verbunden?

Die drei Stücke zitieren sich gegenseitig. Besonders in »Spiri III« finden sich zahlreiche Elemente aus »Spiri I« wieder. Beide Werke enden zum Beispiel mit demselben G-Dur-Akkord, der auch in »Spiri II« eine Rolle spielt. In diesem zweiten Teil taucht zudem eine auf einem Glissando basierende Hornmelodie auf. In »Spiri III« erscheint sie schließlich in vollständig ausgearbeiteter Form. Es findet also ein reger Austausch zwischen den einzelnen Teilen statt. Interessanterweise war mir beim Schreiben der Hornmelodie in »Spiri II« nicht bewusst, dass sie später in »Spiri III« wieder auftauchen würde. Ich reflektiere oft ein abgeschlossenes Werk, während ich bereits am nächsten arbeite. Tatsächlich zitiere ich mich schon seit Längerem selbst.

 

Seung-Won Oh: »Spiri II: Sheltered Ritual«

 

Weil alles zirkuliert, und Enden Anfänge markieren – wie es auch in der »Spiri«-Trilogie anklingt?

Genau. Dieser Gedanke ist zentral für meine musikalische Sprache. Ich schöpfe viele meiner Ideen aus der Obertonreihe, die mir als klangliche Grundlage dient – eine Art Reservoir, aus dem ich immer wieder Neues entwickeln kann. Wenn ich Dissonanzen kreieren möchte, verwende ich die höheren Register der Obertonreihe, wo die Töne näher beieinander liegen. Für diatonische Harmonien verwende ich tiefere Register und weite Intervalle. Ich benutze diese Herangehensweise auf verschiedene Weisen – harmonisch, melodisch, rhythmisch oder sogar rein fürs Timbre. Sie dient als Grundlage, die ich die ich kontinuierlich neu interpretieren kann – mit frischen Ideen und neuen Themen, aber auf einer vertrauten, immer wiederkehrenden Basis.

Also ist Variation auch bei der Wiederholung wichtig – und wie hängt das mit dem Ritualbegriff zusammen, der den Titeln der Stücke zugrunde liegt?

Ich würde eher von »Transformation« als von Variation sprechen. Musik entwickelt sich in meinem Verständnis über die Zeit hinweg – sie verändert sich, weil wir ihr mit anderen Ohren begegnen, weil sich unsere Wahrnehmung durch veränderte Umstände verschiebt. Der Begriff »Variation« erinnert mich eher an die klassischen Klaviervariationen von Mozart oder Beethoven, die oft innerhalb klar definierter Strukturen bleiben. Im Vergleich dazu erscheint mir dieser Ansatz begrenzter. Das Wiederauftauchen bestimmter Elemente in meinen Werken ist kein bloßes Wiederholen – es ist Ausdruck eines fortlaufenden Wandlungsprozesses.

Ein Ritual wiederum basiert tatsächlich auf Wiederholung, aber was es von einer bloßen Gewohnheit unterscheidet, sind Intention und Zweck. Rituale sind bewusste Handlungen, Gewohnheiten hingegen geschehen oft automatisch, ohne Reflexion. Wenn ich zum Beispiel jeden Morgen die Fenster öffne und mir dabei bewusst mache, was dieser Moment für mich bedeutet – frische Luft durch meine Lungen zu atmen und meinen Geist zu klären – dann wird diese Handlung zu einem Ritual. Ohne diese Achtsamkeit wäre es bloß eine Gewohnheit.

Was möchten Sie dem Publikum für das Konzerterlebnis von »Spiri III« mitgeben?

Ich würde mich sehr freuen, wenn »Spiri III: Sacred Ritual« dem Publikum eine Gelegenheit bietet, über unsere Existenz im Universum nachzudenken. Es wäre sehr bedeutungsvoll, wenn es für uns – die Menschen – eine Möglichkeit gäbe, die Schönheit des harmonischen Zusammenlebens zu verstehen.

Mediathek : Weitere Beiträge

Musik und Zukunft

Musik über Zukunft – Zukunft der Musik: ein Essay

Elbphilharmonie Talk mit Kian Soltani

Der iranisch-österreichische Star-Cellist über seine kulturellen Wurzeln, seine Begeisterung für Filmmusik und die verpasste Chance einer besonderen Begegnung.