Interview: Bjørn Woll, Juli 2025
Dieser Mann passt in keine Schublade: 1973 wurde Rufus Wainwright im Bundesstaat New York geboren, wuchs aber in Montreal auf und besitzt deshalb sowohl die US-amerikanische als auch die kanadische Staatsbürgerschaft. 2023 erschien sein Album »Folkocracy«, eine Rückkehr zu seinen Wurzeln, als er mit seinen berühmten Eltern, den Folk-Stars Loudon Wainwright III und Kate McGarrigle, die Sommer auf Festivals verbrachte. Er selbst hat als Singer-Songwriter vor allem Popmusik gemacht. Beherrscht die große, glamouröse Geste dabei genauso gut wie den intimen Moment, getragen von seiner charakteristischen, sanft-rauen Stimme. Auch zu zahlreichen Soundtracks lieferte er Musik, darunter »Brokeback Mountain«, »Moulin Rouge« oder »Shrek«. Raffiniert und sophisticated sind seine Kompositionen. Er ist exzentrisch, eine queere Ikone und politisch aktiv; in den USA hat er sich für die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe eingesetzt. Seit 2011 hat er eine Tochter, seit 2012 ist er mit dem deutschen Theaterproduzenten und Kurator Jörn Weisbrodt verheiratet.
Schon als Teenager war Wainwright von Verdi fasziniert – der Beginn einer lebenslangen Opernpassion. Mittlerweile hat er sich selbst als klassischer Komponist etabliert, hat zwei Opern geschrieben – »Prima Donna« (2009, Manchester) und »Hadrian« (2018, Toronto) – sowie eine Reihe von Shakespeare-Sonetten für den Regisseur Robert Wilson vertont (2009, Berlin). Mit dem »Dream Requiem« hat er 2024 seinen klassischen Werkkatalog um ein kapitales Stück erweitert. Darin trifft der Text der lateinischen Totenmesse auf Lord Byrons apokalyptisches Gedicht »Darkness« (1816) mit seiner düsteren Endzeitstimmung. Nach der Premiere in Paris erlebt das kolossale Werk für Orchester, Chor, Sopran und Sprecherin im August 2025 in der Elbphilharmonie seine deutsche Erstaufführung.
Interview
Woher kommt Ihre starke Verbindung zur klassischen Musik?
Ich bin nicht mit klassischer Musik aufgewachsen, meine Eltern waren Folk-Sänger. Meine Mutter hörte auch Künstler:innen wie Glenn Gould, Martha Argerich und Luciano Pavarotti, sie war aber nicht wirklich eine Klassik-Enthusiastin. Mit 13 habe ich dann eine Aufnahme des Verdi-Requiems mit Leontyne Price und Jussi Björling gehört – und auf einmal war da dieser Hunger nach Klassik und besonders der Oper.
Klassischer Musiker wollten Sie aber nicht werden?
Ich war damals mehr daran interessiert, Songs zu schreiben, und wollte meine Jugend, sagen wir mal, auf eine dekadentere Art erleben. Allerdings wurde die Oper zu einer geheimen Zutat für meine Songs: Einige davon erinnern in ihrer dramatischen Struktur eher an eine Arie. Das war ungewöhnlich und half mir, als Künstler wahrgenommen zu werden.
Mit »Prima Donna« haben Sie aber doch noch die Seiten gewechselt …
… weil ich das Gefühl hatte, dass ich der Oper etwas zurückgeben möchte. Es ist ein eher einfaches Stück und hat eine gewisse Naivität, trotzdem mag ich es sehr. Ich wollte das Rad damit auch gar nicht neu erfinden, ich musste erst mal lernen, für Orchester zu schreiben. Die Shakespeare-Sonette waren da schon ein anderes Kaliber: Wenn man es mit Shakespeare zu tun hat, muss man zwangsläufig einen Gang höher schalten. Vor allem mit der Orchestrierung war ich zunächst unzufrieden und habe mir dafür extra die Unterstützung eines Orchestrators geholt. Die Erfahrung mit den Sonetten war ein wichtiger Schritt zu meiner nächsten Oper »Hadrian«, denn dafür musste ich einen Sound für das gesamte römische Imperium schaffen.
Plotinas Arie aus »Hadrian«
Wie lief die Arbeit am »Dream Requiem«, das ja noch größer besetzt ist?
Ich habe mich endlich als Komponist sicher gefühlt, weil ich genügend Erfahrung bei der Arbeit mit Orchester hatte, um mich wirkungsvoll ausdrücken zu können. Das galt aber nicht für den Chor: Das Schreiben von Chorsätzen habe ich voll und ganz erst mit dem Requiem gelernt.
War das eine bewusste Entscheidung, klassischer Komponist zu werden, oder ist das einfach so passiert?
Wie gesagt, der Einfluss der Klassik war in meiner Musik eigentlich schon immer da. Aber ich betrachte mich nicht als klassischen Komponisten per se. Oder bin ich doch einer? Ich weiß es gar nicht … Ich meine, ich könnte schon sagen, dass ich einer bin – obwohl mich das immer noch ein bisschen nervös macht, ich bin in gewisser Hinsicht durchaus bescheiden, ob Sie es glauben oder nicht. Aber ich bekomme regelmäßig Anfragen für mehr Opern, Orchesterstücke, Ballette. Es gibt also eine Nachfrage. Ich schätze, ich bin ein klassischer Komponist. Oh Gott!
In Deutschland gibt es oft eine große Skepsis, wenn Künstler:innen die Grenzen zwischen Klassik und Pop bzw. sogenannter U- und E-Musik überschreiten. Wie erleben Sie das?
Das ist mir bewusst. Aber ich tue gar nicht so, als sei ich der neue Bach oder Beethoven. Mein Name beginnt ja noch nicht mal mit einem B (lacht). Eine wirklich prägende Erkenntnis habe ich von Brigitte Fassbaender, deren Interpretation der »Winterreise« ich rauf und runter gehört habe, ich war wie besessen davon. Sie hat einmal gesagt, dass es bei Schubert kurze Momente gibt, die mehr bewegen als eine Fünf-Stunden-Oper. Wenn mir das in meinen Werken gelingt, die Menschen für ein, zwei Momente wirklich zu berühren, anstatt sie mit meinen intellektuellen Fähigkeiten und technischen Fertigkeiten zu überwältigen, dann habe ich meinen Job erledigt.
Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie Pop oder Klassik komponieren?
Einen Song zu schreiben, ist sehr intim. Man versucht dabei, seine innersten Gefühle einzufangen. Wenn man ein klassisches Stück komponiert, eine Oper zum Beispiel, muss man stärker überlegen, was das Beste für das Werk ist. Man muss sich selbst ein bisschen aus der Gleichung herausnehmen. Allerdings gibt es im Requiem zwei Momente, die stark von meiner Popmusik beeinflusst sind: Das »Agnus Dei« habe ich vor Jahren einmal für ein Pop-Album geschrieben. Und auch das »Sanctus« war ursprünglich ein Popsong, bei dem ich lange Zeit nicht wusste, was ich damit anfangen sollte. Vielleicht gibt es also eine stärkere Verbindung, als ich glauben möchte.
»Elbphilharmonie Session« mit Rufus und Martha Wainwright
Rufus und Martha Wainwright singen den Song »Your Mother and I«, geschrieben von ihrem Vater Loudon Wainwright III. Ein Take, live aufgenommen im Soundcheck vor ihrem Konzert im Großen Saal der Elbphilharmonie.
Ein entscheidender Unterschied zwischen einem Popsong und einer Oper ist die Länge. Beängstigt Sie das nicht?
Ich habe keine Angst davor, weil ich instinktiv komponiere, egal in welchem Genre. Ich befinde mich in einer Art Trance, so finde ich am besten heraus, wie ich das Schiff über Wasser halten kann. Das hat nichts mit Intellekt zu tun. Klar, ich habe eine Menge gelernt, und das ist alles in meinem Kopf. Aber wenn ich konkret schreibe, ist das ein sehr animalischer Prozess. Die lange Form macht mir also gar nicht so viele Sorgen. Mir fällt es eher schwer, mich in meinen Popsongs kurz genug zu fassen.
Brauchen Sie eine bestimmte Umgebung, um in diese Trance zu kommen?
Für mich spielt vor allem der Ort eine besondere Rolle. Für »Hadrian« bin ich extra nach Rom gereist, um Teile der Oper dort zu komponieren. Das Requiem ist in Los Angeles entstanden. Ich habe eine Freundin, die eine abgefahrene Villa in den Hollywood Hills besitzt, ein bisschen wie aus »Sunset Boulevard«. Dort saß ich dann mit Blick auf das Hollywood-Zeichen, während um mich herum Sandstürme und Feuer wüteten. Ursprünglich war es das Anwesen eines Stummfilmstars, später wurde aber eine katholische Mädchenschule daraus. Es gab also eine Menge katholischer Ikonografie, Bilder der Jungfrau Maria oder von Märtyrern, die gefoltert wurden. Die Naturkatastrophe draußen und die Heiligenbilder innen haben mich bei meiner Arbeit stark beeinflusst.
Worum geht es im »Dream Requiem«?
In die Zeit meiner Arbeit daran fiel die erste Amtszeit von Donald Trump, aber auch der Beginn der Covid-Pandemie. Außerdem gab es diese verheerenden Brände in Los Angeles. All das hat seine Spuren hinterlassen, das Stück wurde intensiver und düsterer. Kurz nach der Premiere in Paris wurde Trump erneut Präsident. Das »Dream Requiem« wurde so etwas wie der Tod des amerikanischen Traums. Es ist wie ein Hilferuf inmitten dieses ökologischen und politischen Strudels, in dem wir uns gerade befinden.
Trotzdem gibt es Momente von Schönheit in der Musik.
Es ist aber eine vergängliche Schönheit, ein bisschen wie der Klang von Gustav Mahler vor dem Ersten Weltkrieg, eine Art Vorahnung des Endes.

»Mein Requiem wurde so etwas wie der Tod des amerikanischen Traums.«
In Ihrem Requiem unterbrechen Sie den traditionellen Text der lateinischen Totenmesse mit Passagen aus dem Gedicht »Darkness« von Lord Byron. Etwas Ähnliches hat Benjamin Britten in seinem »War Requiem« gemacht. Was war Ihre Absicht dabei?
Britten hat mich in der Tat beeinflusst. An dem Tag, an dem Putin die Ukraine überfiel, habe ich mir gerade Ausschnitte daraus angehört. Von diesem seltsamen Zufall war ich irgendwie betroffen. Es gibt aber noch einen anderen Grund: Ich bin kein religiöser Mensch. Es sollte also kein rein religiöses Werk werden, daher wollte ich ein säkulares Element, das auch mehr über die Umweltkatastrophe spricht, in der wir uns alle befinden.
Anders als bei Britten wird das Gedicht bei Ihnen nicht gesungen – warum?
Es ist viel einfacher, Latein zu vertonen, als es zu sprechen. Man muss nur genau hinhören, dann geht es fast von selbst. Im Englischen klappt das mit dem Singen nicht so einfach. Ich habe mich deshalb dafür entschieden, Byrons Verse rezitieren zu lassen. Das bringt noch einmal eine andere Dimension in die Komposition. Außerdem ist es letztendlich auch ein gutes Werkzeug, das Stück zu promoten, wenn man, wie bei der Uraufführung, Meryl Streep hat oder Isabelle Huppert in Hamburg. Allerdings hatte ich das nicht so geplant. Alle Elemente haben sich ganz natürlich ergeben, was ein wichtiger Aspekt der Kreativität ist: Man musste die Dinge geschehen lassen.
-
Lord Byron: »Darkness«
Darkness
Lord Byron (George Gordon)
I had a dream, which was not all a dream.
The bright sun was extinguish'd, and the stars
Did wander darkling in the eternal space,
Rayless, and pathless, and the icy earth
Swung blind and blackening in the moonless air;
Morn came and went – and came, and brought no day,
And men forgot their passions in the dread
Of this their desolation; and all hearts
Were chill'd into a selfish prayer for light:
And they did live by watchfires – and the thrones,
The palaces of crowned kings – the huts,
The habitations of all things which dwell,
Were burnt for beacons; cities were consum'd,
And men were gather'd round their blazing homes
To look once more into each other's face;
Happy were those who dwelt within the eye
Of the volcanos, and their mountain-torch:
A fearful hope was all the world contain'd;
Forests were set on fire – but hour by hour
They fell and faded – and the crackling trunks
Extinguish'd with a crash – and all was black.
The brows of men by the despairing light
Wore an unearthly aspect, as by fits
The flashes fell upon them; some lay down
And hid their eyes and wept; and some did rest
Their chins upon their clenched hands, and smil'd;
And others hurried to and fro, and fed
Their funeral piles with fuel, and look'd up
With mad disquietude on the dull sky,
The pall of a past world; and then again
With curses cast them down upon the dust,
And gnash'd their teeth and howl'd: the wild birds shriek'd
And, terrified, did flutter on the ground,
And flap their useless wings; the wildest brutes
Came tame and tremulous; and vipers crawl'd
And twin'd themselves among the multitude,
Hissing, but stingless – they were slain for food.
And War, which for a moment was no more,
Did glut himself again: a meal was bought
With blood, and each sate sullenly apart
Gorging himself in gloom: no love was left;
All earth was but one thought – and that was death
Immediate and inglorious; and the pang
Of famine fed upon all entrails – men
Died, and their bones were tombless as their flesh;
The meagre by the meagre were devour'd,
Even dogs assail'd their masters, all save one,
And he was faithful to a corse, and kept
The birds and beasts and famish'd men at bay,
Till hunger clung them, or the dropping dead
Lur'd their lank jaws; himself sought out no food,
But with a piteous and perpetual moan,
And a quick desolate cry, licking the hand
Which answer'd not with a caress – he died.
The crowd was famish'd by degrees; but two
Of an enormous city did survive,
And they were enemies: they met beside
The dying embers of an altar-place
Where had been heap'd a mass of holy things
For an unholy usage; they rak'd up,
And shivering scrap'd with their cold skeleton hands
The feeble ashes, and their feeble breath
Blew for a little life, and made a flame
Which was a mockery; then they lifted up
Their eyes as it grew lighter, and beheld
Each other's aspects – saw, and shriek'd, and died –
Even of their mutual hideousness they died,
Unknowing who he was upon whose brow
Famine had written Fiend. The world was void,
The populous and the powerful was a lump,
Seasonless, herbless, treeless, manless, lifeless –
A lump of death – a chaos of hard clay.
The rivers, lakes and ocean all stood still,
And nothing stirr'd within their silent depths;
Ships sailorless lay rotting on the sea,
And their masts fell down piecemeal: as they dropp'd
They slept on the abyss without a surge –
The waves were dead; the tides were in their grave,
The moon, their mistress, had expir'd before;
The winds were wither'd in the stagnant air,
And the clouds perish'd; Darkness had no need
Of aid from them – She was the Universe.(https://www.poetryfoundation.org)
Gewidmet ist das Werk unter anderem Ihrem großen Vorbild Giuseppe Verdi. Wo hören wir das besonders deutlich?
Der Anfang war mir wichtig, denn ich liebe den Anfang von Verdis Requiem. Er bringt uns sofort in diese Atmosphäre, man ist direkt gefangen. Das zu erreichen, habe ich auch versucht – die Leute wirklich gleich zu fesseln. Auch an sein beeindruckendes »Dies irae« wollte ich zumindest heranreichen. Was mir nicht unbedingt gelungen ist. Aber es ist ein guter Versuch, würde ich sagen.
Gab es andere Komponist:innen, die Sie beeinflusst haben?
Ich bin total von Strauss beeinflusst. Außerdem liebe ich Janáček und Messiaen. Man kann im Requiem tatsächlich hier und da ein bisschen Messiaen hören. Auch ziemlich viel Berlioz steckt drin. Eine Menge von großen Komponist:innen haben bei mir ihre Spuren hinterlassen, auch Schubert.
Hat sich Ihr eigener Stil als Komponist über die Jahre eigentlich verändert, von der ersten Oper bis zum »Dream Requiem«?
Ich glaube nicht, dass sich mein Stil geändert hat. Ich bin immer noch derselbe, glaube zu hundert Prozent an die große Melodie. Das ist das eine Element in der modernen klassischen Musik, das meiner Meinung nach fehlt. Damit meine ich nicht irgendeine Melodie, sondern so etwas wie die »Méditation« aus Massenets »Thaïs«, eine Melodie, die alles um sie herum verblassen lässt. Für Komponist:innen war das früher die Norm, heute ist es selten geworden.
Als Singer-Songwriter sind Sie Ihr eigener Interpret. Wie ist das für Sie bei einem Werk wie dem »Dream Requiem«, das Sie irgendwann aus der Hand geben müssen, und dann sind andere dafür verantwortlich?
Ich erinnere mich an die erste Orchesterprobe vor der Premiere in Paris mit Mikko Franck. Das war das erste Mal, dass ich das Requiem live von einem Orchester gehört habe. Dann kam auch noch Meryl Streep spontan dazu und hat die ganze Zeit meine Hand gehalten. Ich habe mir nur gedacht: Ich höre mein Stück zum ersten Mal, und neben mir sitzt Meryl Streep – das ist verrückt! In diesem Moment war ich total erleichtert, das war nicht immer so. Als meine erste Oper uraufgeführt wurde, hatte ich mich als Verdi verkleidet – und kam mir am Ende ziemlich lächerlich vor. Ich war einfach nur nervös und verunsichert, es war ein Albtraum. Beim Requiem war das ganz anders, da war ich von einigen Momenten ehrlich überwältigt und bewegt.
Ihre Karriere als Singer-Songwriter wollen Sie jetzt aber nicht an den Nagel hängen und nur noch als klassischer Komponist arbeiten?
Noch nicht. Aber wenn ich irgendwann nicht mehr singen kann, habe ich einen Plan B.
Dieses Interview erscheint im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 3/25)
- Elbphilharmonie Großer Saal
Rufus Wainwright: Dream Requiem
Symphoniker Hamburg / Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg / Isabelle Huppert u.a. – Elbphilharmonie Sommer / Internationales Sommerfestival Kampnagel
Vergangenes Konzert - Elbphilharmonie Großer Saal
Rufus Wainwright: Dream Requiem
Symphoniker Hamburg / Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg / Isabelle Huppert u.a. – Elbphilharmonie Sommer / Internationales Sommerfestival Kampnagel
Ausverkauft