Die Geschichte der elektronischen Musik erzählt eine Geschichte menschlichen Erfindertums und visionärer Kreativität – von ersten Experimenten mit elektrischer Spannung über geduldige Tonband-Basteleien und legendäre analoge Synthesizer hin zur digitalen Klangerzeugung mit schier unbegrenzten Möglichkeiten.
Angefangen hat alles bei der Entdeckung, dass man Elektrizität zur Klangerzeugung nutzen kann. Sie löste einen wahren Boom in der Kreativszene der Instrumentenentwickler aus – und das lange vor Bob Moogs erstem Synthesizer: Schon vorher hatten Computer singen gelernt, hatten E-Orgeln für die volle Dröhnung gesorgt und hatte man in Russland das erste Instrument gebaut, das völlig ohne Berührung funktioniert …
Clubfähige Beats und abgefahrene Klangbasteleien: In der Elbphilharmonie sind regelmäßig bedeutende Elektro-Künstler aus aller Welt zu Gast.
Es war einmal ... :... im 18. Jahrhundert: die Anfänge elektronischer Musik
Als Mozart gerade drei Jahre alt war, entwickelte ein Pariser Jesuitenpater das erste elektronische Glockenspiel. Während sich die Wiener Klassiker auf den Höhepunkt der Hammerflügel-Musik vorbereiteten, hatte der französische Erfinder einen Weg gefunden, mit Reibung elektrischen Strom zu erzeugen, der Hämmerchen in Bewegung setzte, die gegen kleine Glocken schlugen. Auch wenn der Klang selbst also noch herkömmlich entstand, war das Clavessin électrique des experimentierfreudigen Priesters das erste Instrument mit elektrischem Interface.
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Die erste Tonaufnahme ...
…entstand aus Versehen: Als im März 1857 dem Franzosen Édouard-Léon Scott de Martinville die erste Aufnahme gelang, hatte er gar nicht vorgehabt, sie wieder abzuspielen. Er interessierte sich eigentlich nur für die Visualisierung von Klang und hatte es geschafft, die Schwingungen einer Membran mit einer Schweineborste auf eine rußgeschwärzte Platte zu kratzen. Damit hatte er kurzerhand den Oszillographen erfunden.
Das Telefon als Gamechanger :19. Jahrhundert: wichtige Erfindungen
Bis elektrische Spannung direkt in Schall umgewandelt werden konnte, dauerte es noch 100 Jahre, nämlich bis zur Geburtsstunde des Telefons. Denn mit ihm wurden ganz nebenbei Mikrofon, Lautsprecher und Verstärker erfunden – die notwendigen Basics für die Aufzeichnung und Ausgabe von Klängen. Und zusammen mit dem Telefon erreichte schließlich auch die Schallplatten-Technik in den 1870er Jahren ihre Marktreife und etablierte sich für die kommenden knapp 100 Jahre als das Medium Nummer Eins in der Vervielfältigung und Wiedergabe von Musik.
200 Tonnen schwer: ein erster Vorläufer des Synthesizers
Noch vor 1900 betrat ein weiterer Visionär den Ring der kreativen Instrumentenbauer: Thaddeus Cahill wollte nicht weniger als ein ganzes Orchester imitieren. Mit seinem Telharmonium schuf der Amerikaner den ersten Vorgänger des Synthesizers. Das etwa 18 Meter lange und 200 Tonnen schwere Instrument erstreckte sich über zwei Stockwerke der New Yorker Telharmonic Hall: Oben an der Konsole saß der Spieler, eine Etage tiefer befand sich ein riesiges E-Werk, in dem 145 Generatoren die benötigte elektrische Spannung erzeugten. Zu hören war das Telharmonium mangels Lautsprecher nur übers Telefon. Cahill verkaufte dafür Abos – als erster Streaming-Anbieter überhaupt.
Kontaktlos Klingen :1920er Jahre: neuartige Instrumente
Während man in den Folgejahren in Europa an der Zerlegung von Klängen forschte und der deutsche Universalgelehrte Hermann von Helmholtz die frequenzbasierte Klangsynthese entwickelte, sorgte der russisch-amerikanische Erfinder Leon Theremin 1920 mit einer anderen Idee für Aufsehen: Er hatte ein Instrument entwickelt, das ohne Berührung Klang erzeugte. Der mysteriöse Sound seines Theremins erfreut sich bis heute auch in der Filmmusik großer Beliebtheit. Das Instrument verfügt über zwei Antennen, die ein elektromagnetisches Feld aufbauen. Indem der Spieler seine Hände innerhalb des Feldes bewegt, verändert er den von Oszillatoren erzeugten Grundton: mit der rechten Hand die Tonhöhe, mit der linken die Lautstärke.
Leon Theremin spielt auf seinem Instrument
Der direkte Draht zum Klang
Das Theremin wiederum inspirierte nicht nur den Synthesizer-Urvater Robert Moog. Auch den französischen Musiker und Amateurfunker Maurice Martenot faszinierte das außergewöhnliche Instrument so sehr, dass ihm Ende der 1920er Jahre die Idee zu seinen Ondes Martenot (»Martenots Wellen«) kam. Hier wird die Höhe des Grundtones über einen Draht verändert, den man mit einer Öse hin- und herzieht. Um dem Spieler Orientierung zu bieten, montierte Martenot davor eine stumme Klaviertastatur. Erst später kam er auf die Idee, den Klang direkt darüber anzusteuern. Das Instrument wurde von Olivier Messiaen ebenso eingesetzt wie von Jacques Brel oder im Soundtrack zu »Ghostbusters«.
Maurice Martenot präsentiert sein neues Instrument
Ein weiterer Tüftler, der seinen Namen um 1930 durch ein Instrument verewigte, war der Amerikaner Laures Hammond: Ursprünglich als Ersatz für die Pfeifenorgel gedacht, etablierte sich seine Hammond-Orgel schon bald zum Sound-Star im Jazz und Gospel. Ihr charakteristisches Wummern entsteht durch Metallräder mit gezackten Rändern, die vor Tonabnehmern rotieren, wie sie auch in E-Gitarren Verwendung finden. Ihren ersten Auftritt hatte die Hammond-Orgel 1935 in New York – ausgerechnet in einer Bearbeitung der Ersten Sinfonie von Johannes Brahms.
»Die Erfindung des Computers war für die Musik das Wichtigste seit der Entdeckung von Darmseiten für Streichinstrumente – und das ist schon eine ganze Weile her.«
Robert Moog
Ein singender Computer :1950er Jahre: erste Versuche einer digitalen Klangerzeugung
Noch bevor die analogen Synthesizer aus Amerika die Welt eroberten, versuchten sich einige Kollegen in Australien in den 1950er Jahren an der digitalen Klangerzeugung. Ihr Computer hörte auf den schönen Namen CSIRAC: Council of Scientific and Industrial Research Automatic Computer. Er war an einen Lautsprecher angeschlossen, über den er mit einem Signalton das Ende eines Rechenprozesses verkündete. Ganz zum Entzücken seiner Dompteure: Zum Beweis, dass so ein Gerät tatsächlich alles kann, programmierte einer der Angestellten in seiner Freizeit kleine Melodien, die der Computer abspielte.
Der singende Computer sorgte zwar für Aufsehen, konnte sich aber noch nicht durchsetzen, waren er und seine digitalen Artgenossen doch einfach noch zu groß, zu teuer und vor allem zu langsam. Der nächste programmierbare Klangerzeuger entstand 1957 in Amerika: der RCA Mark I Sound Synthesizer. Vom Unterhaltungskonzern RCA als Hitmaschine konzipiert, sollte er erfolgreiche Songs analysieren und neue generieren. Das Vorhaben scheiterte und auch der Nachfolger Mark II war zu umständlich und nicht sehr erfolgreich. Wie sein älterer Bruder funktionierte der raumfüllende Computer über Papier-Lochstreifen mit Algorithmen und Röhrenoszillatoren.
Zwei Synthesizer aus Amerika :1960er Jahre: analoge Synthesizer schreiben Musikgeschichte
Während die digitalen Klangerzeuger bis zu ihrem Durchbruch also noch ein paar Jahrzehnte warten mussten, traten zu Beginn der 60er Jahre in den USA zwei Instrumentenbauer auf den Plan, die mit analogen Synthesizern tatsächlich die Musikwelt revolutionierten: Bob Moog an der Ostküste und Don Buchla an der Westküste. Robert (Bob) Moog, Sohn eines Elektrotechnikers, lötete sich schon als Teenie ein eigenes Theremin zusammen und sorgte bei Schulkonzerten mit seiner elektronischen Orgel für Aufsehen. Bald präsentierte er erste Versuche einer modular organisierten, elektronischen Klangerzeugung – mit Erfolg: Künstler wie John Cage bissen sofort an.
1964 schuf er seinen Moog-Prototype: ein Synthesizer, der aussah wie ein großer Schrank mit einer Klaviatur. Daran angeschlossen waren frei kombinierbare Module, mit denen Töne erzeugt und verändert werden konnten. 1968 stürmte Wendy Carlos mit »Switched-On Bach« (Bach-Werke, gespielt auf Moogs Synthesizer) die Charts und brachte den Synthie-Sound vor die Ohren der Welt.
Walter (Wendy) Carlos präsentiert den Moog-Synthesizer
Die Begeisterung für die neuen Klänge schwappte schnell in die Popmusik hinüber, aber die riesigen Kästen waren teuer und unmöglich zu transportieren. Die Lösung kam 1970 und hieß Minimoog: ein kompaktes Instrument mit übersichtlichen Knöpfen und Schaltern – genau das Richtige für Kraftwerk und Co.
Noch mehr Töne – ein Synthesizer ohne Klaviatur
Anders als die Modelle von Bob Moog verfügte Donald (Don) Buchlas Synthesizer nicht über eine Klaviatur. Denn der Kalifornier wollte mehr: Er wollte mehr als zwölf Halbtöne und er wollte vor allem ein ganz neues, eigenständiges Instrument schaffen. Seinen ersten Prototypen entwickelte er gemeinsam mit dem Avantgarde-Musiker Morton Subotnick, der ihn darin bestärkte: »Es sollte nicht die alte Herangehensweise an Musik sein.« Buchla entwickelte also statt einer Klaviatur einen Controller und Touchpads, über die man mehrere Parameter gleichzeitig bedienen konnte. Revolutionär war nicht nur diese Steuerung, sondern auch der Sound: Was da aus den mit Kabeln zusammengepatchten Oszillatoren, Filtern und Modulatoren tönte, hatte die Welt bis dahin wirklich noch nicht gehört. Eine der wichtigsten Pionierinnen dieser neuen Klänge war und ist Suzanne Ciani. Bis zu Don Buchlas Tod verband die beiden eine enge Freundschaft, heute bezeichnet sie den Erfinder gern als den »Leonardo Da Vinci unter den Instrumentenentwicklern«.
Reinhören: Suzanne Ciani live in San Francisco (2017)
Suzanne Ciani live
Am 16 Mai 2022 sind Suzanne Ciani und ihr Buchla-Synthesizer im Kleinen Saal zu erleben – ein Highlight der Elektronik-Saison der Elbphilharmonie!
1978 eroberte daneben der Sequential Circuits Prophet-5 des Bastler-Duos von Dave Smith und John Bowen die Weltbühne – ein großer Name für einen Synthesizer, aber angemessen für diesen legendären Klassiker. Der Prophet-5 prägte den Sound der späten 70er und frühen 80er Jahre. Das Besondere: die erstmals gegebene Mehrstimmigkeit (bis zu fünf Stimmen). Außerdem bestand von nun an die Möglichkeit, Daten auf einem externen Kassettenlaufwerk zu speichern.
»Die Technik befreit uns davon, blinde Virtuosität zu üben – und ermöglicht uns damit eine intensive und inhaltliche Beziehung zum Instrument.«
Don Buchla
Der Digitale Durchbruch :1980er Jahre: digitale Klangerzeugung
Insgesamt waren es mindestens drei Neuerungen, die die 80er Jahre und eine neue Ära der Musikproduktion einläuteten: Erstens gab es die ersten erschwinglichen Heimcomputer; zweitens wurden mit der Einführung von MIDI elektronische Musikdaten standardisiert und drittens die passende Software geboren.
So feierte schließlich die digitale Klangerzeugung ihren Siegeszug: Als Meilenstein der Menschheit, gleich nach dem Rad und dem elektrischen Licht, wurde 1983 der Yamaha DX7 beworben. Und tatsächlich war dieser erste digitale Synthesizer eine Sensation: 16-stimmig, mit Anschlagsdynamik und Speicher war er leistungsfähiger als alle anderen Geräte der Zeit. Seine mittels FM-Synthese (Frequenzmodulation) erzeugten Bass-, Klavier- und Glockensounds wurden zum Markenzeichen unzähliger Pop- und Rocksongs der 80er, zum Beispiel Whitney Houstons »The Greatest Love of All«.
Und wie geht es weiter?
Die Forschung an digitaler Klangerzeugung beschäftigt seit den 1980ern viele Tüftler – unter ihnen einige der größten, die die Menschheit hervorbrachte: Ray Kurzweil zum Beispiel, der nicht nur Apples »Siri« schuf, der Entwicklungschef bei Google und 21-facher Ehrendoktor ist, sondern der mit seinem Keyboard auch jahrelang für den besten synthetischen Klaviersound stand – entwickelt für Stevie Wonder höchstpersönlich.
Die Allgegenwart des Computers hat auch in der Musik ihre Spuren hinterlassen. Jedes Smartphone verfügt über mehr Rechenleistung als die Computer vor der Jahrtausenwende; mit der entsprechenden Software wird jeder Laptop zum Tonstudio oder Kompositions-Automaten. Und doch zeigen der aktuelle Boom der analogen Retro-Synthies und nicht zuletzt grandiose Musikerinnen wie Suzanne Ciani, dass die technischen Möglichkeiten allein nicht glücklich machen. Erst die kreative Leistung eines Menschen macht aus Maschinen Musik.
»Ich war nie besorgt, dass Synthesizer Musiker ersetzen würden. Zunächst muss man Musiker sein, um mit einem Synthesizer Musik zu machen.«
Don Buchla
Text: Julika von Werder; Stand 2. Februar 2022