Text: Stefan Franzen, April 2025
Augen und Ohren ganz weit aufsperren und sich durchströmen, berauschen lassen von leuchtenden Bildern und majestätischem Wohlklang« – so eröffnete der »Spiegel« im November 1983 seine Besprechung zu »Koyaanisqatsi«, dem gemeinsamen Werk des Regisseurs Godfrey Reggio und des Komponisten Philip Glass. In der cineastischen Kunst brachte der Film eine bahnbrechende Neuerung: Seine Musik löst sich komplett aus der traditionellen Funktion als untermalendes, kommentierendes Element, als Trigger und Verstärker von Emotionen. Vielmehr verschmilzt sie mit dem dialogfreien Bilderstrom zu einem einzigen organischen Körper aus Licht und Ton, »atmet« gewissermaßen in Synchronizität mit den visuellen Ereignissen.
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Leben aus den Fugen
Zwar kam »Koyaanisqatsi« 1983 in die Kinos, seine Geschichte reicht aber in die frühen Siebziger zurück. Godfrey Reggio ist damals ein junger Priester einer katholischen Bruderschaft, der sich im kalifornischen Santa Fé für Kinder und Jugendliche auf der Straße engagiert und fragt, woran seine Schützlinge eigentlich kranken. Er recherchiert über die gesellschaftlichen Auswirkungen von Big Data und Umweltzerstörung, trägt diese Themen mit werbewirksamen Kampagnen in die Öffentlichkeit. Und geht schließlich mit dem Kameramann Ron Fricke auf eine siebenjährige Odyssee durch die Staaten, um das, was Menschen dem Planeten und damit sich selbst antun, in Bildern einzufangen.

Als sich die Flut des Materials am Schneidetisch zu einem Film herauskristallisiert, kommt die Kernfrage auf, welche Musik diesem Strom von visuellen Reizen begegnen könne. Reggio lernt den aufstrebenden Minimalisten Philip Glass kennen, der seinerseits an einer Zusammenarbeit interessiert ist. Denn Reggios filmische Perspektive, der kühle, fremde Blick wie von einem Besucher aus dem All, scheint den fast mathematischen Strukturen von Glass’ Musik verwandt, die sich von einem persönlichen oder gar romantisierenden Empfinden entkoppelt hat.
Den Titel »Koyaanisqatsi« hat Reggio der Sprache der Hopi entnommen, er bedeutet so viel wie »Leben aus den Fugen«. Das Wort ist ein fester Begriff in der Hopi-Prophezeiung vom selbstverschuldeten Ende der Menschheit – einer Katastrophe, in der nur die zum Einklang mit der Natur bereiten Menschen eine neue Chance bekommen.
Trailer »Koyaanisqatsi«
Zukunftsvisionen und Zivilisationskritik
Aus dem luftleeren Raum kam das künstlerische Aufgreifen von Zukunftsvisionen und Zivilisationskritik damals nicht. Bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren floss das Thema in Bild und Musik zusammen. Die Musik von Gottfried Huppertz zu Fritz Langs »Metropolis« (1927) arbeitet noch mit den herkömmlichen orchestralen Mitteln jener Zeit, getragen von spätromantischem Pathos. Huppertz setzt die Maschinenhalle mit Paukenschlägen, martialischem Blech und aufgewühlten Staccato-Streichern in Töne. Charlie Chaplins eigene Musik zur Fabrikszene von »Modern Times« (1936) trägt eher humoreske und tänzerische Züge, unter Zuhilfenahme spielerischer Perkussion. Die Gesellschaftskritik in diesen Klassikern entzündet sich vor allem an der Thematik der Arbeitsverhältnisse.
Als Vorläufer von »Koyaanisqatsi« interessanter ist Aaron Coplands Score zu Ralph Steiners und Willard van Dykes Doku-Kurzfilm »The City« (1939): In der Schilderung des entseelten Arbeitsalltags der Stadt, die mit Szenen des Landlebens kontrastiert wird, meißelt Copland repetitive Figuren deutlich heraus, nimmt dadurch schon Züge des Minimalismus vorweg. Der explizit ökologische und apokalyptische Aspekt trat dann allerdings erst bei Godfrey Reggio hinzu. Es war damals gewissermaßen der Zeitgeist, ausgelöst durch die Veröffentlichung der Club-of-Rome-Studie »Die Grenzen des Wachstums« von 1972. Sie bezog erstmals eine klare Position gegen die unkontrollierte Ausbeutung von Ressourcen.

Der dramatische Bogen des Soundchecks
Mit welchen musikalischen Mitteln arbeitet Philip Glass nun, um den bis dato einzigartigen Bezug zu den Bildern zu schaffen? Auch wenn Film und Soundtrack in klare Kapitel unterteilt sind, nehmen Auge und Ohr über die achtzig Minuten einen dramatischen Gesamtbogen wahr, der in der akustischen Erinnerung noch lange nachhallt. Die ersten Abschnitte lassen sich als eine Art Schöpfungsgeschichte deuten: Liegetöne in den tiefen Streichern, vereinzelte Holzbläsersignale, Trompetenakzente treten hinzu. Die Klänge formen sich während überwältigender Flüge über zunächst unbelebte, dann organisch beseelte Natur heraus, entlang von Wolkentürmen und Wasserwänden, die die Leinwand beherrschen. Der Mensch ist noch nicht präsent.
Doch in dem Maße, in dem er Teil der Geschichte wird, und zwar gleich als Eingreifender und Ausbeuter, als Bauender und Zerstörer, schließlich als Kriegsführender, gewinnen schnellere Klänge an Bedeutung, insbesondere Ketten aus wechselweise Sechzehntelnoten und Sextolen, also doppelten Triolen. Sie tragen kaum musikalische Entwicklung in sich, gehen in ihrer Funktion eines Perpetuum mobiles auf, scheinen in ihrem Kreiseln gefangen. Die stetige Verdichtung mit mehr Instrumenten erzeugt das Gefühl akustischer und visueller Unentrinnbarkeit. Das ist besonders in der langen, zentralen Passage namens »The Grid« der Fall, die das Stadtleben als anonymisierten Kreislauf abbildet. Die Metropole selbst wird zum Organismus, Verkehrswege pulsieren wie Blutströme, im atemlosen Alltag sind die Menschen auf ameisenhafte Spielfiguren reduziert. Im extremen Zeitraffer ist die Musik sekundengenau im Einklang mit dem Bilderrhythmus getaktet. Als Kontrast dient eine ebenso extreme Zeitlupe, musikalisch ausgestaltet durch dunkle Synthesizer-Akkorde. Hier sind ausnahmsweise Gesichter zu sehen, und in ihnen spiegeln sich existenzielle Müdigkeit und Melancholie.
Die Orchesterfassung ist opulent, mit Streicherabteilung ohne Violinen, Flöten inklusive Piccolo, Sopran- und Tenorsaxofonen, Trompeten, Posaunen, Klavier, Orgel und vierstimmigem Chor. Eine Kammerfassung verdichtet die Partitur auf Holzbläser und Keyboards (diese Fassung spielt in der Elbphilharmonie das achtköpfige Philip Glass Ensemble, das nach dem Rückzug des mittlerweile 88-jährigen Komponisten dessen Mission weiterführt).
Die Musik der beiden Nachfolge-Filme dagegen erreichte nicht annähernd eine vergleichbare Wirkung. »Powaqqatsi« (1988) kombiniert Minimalismen mit Worldmusic-Elementen, »Naqoyqatsi« (1992) verliert sich teilweise in träumerischen Cello-Soli von Yo-Yo Ma. Auch Versuche aus anderen stilistischen Lagern, die Bilder von »Koyaanisqatsi« in Musik zu kleiden, kommen nicht an die Intensität des Originals heran. Die belgische Band We Stood Like Kings etwa arbeitet mit dem kühlen Pathos eines hymnischen Post-Rocks, schafft es aber nicht, den spannungsgeladenen und am Ende verschlingenden Sog auf Hör- und Sehsinn zu übertragen.
Eingerahmt – und das trägt zur Einheit von Glass’ Soundtrack wesentlich bei – wird der Film von Impressionen der Hopi-Höhlenmalerei, zu denen über einem absteigenden Orgelmotiv eine Bass-Stimme in beschwörendem Ton den Filmtitel wiederholt. Die Standbilder kontrastiert Reggio mit einem Raketenstart, der in extremer Zeitlupe eingefangen wurde, und schließlich mit dem Zoom auf eine abgesprengte Zündstufe. Zurücktaumelnder Weltraumschrott ist das, was von uns Menschen bleibt. Die Orgelfiguren dazu erinnern an ein ruhiges Choralvorspiel im Stile Johann Sebastian Bachs, etwa den lutherischen Bittgesang »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« (BWV 639). Man darf ruhig ein wenig fantasieren: Versteckte Glass hier – bewusst oder unbewusst – einen Querverweis auf die Erbarmungswürdigkeit des Homo sapiens?
Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 2/25)