Anke Fischer und Christoph Lieben-Seutter

»Eigentlich ist alles, was wir tun, Musikvermittlung.«

Musik für alle: Ein Interview mit Generalintendant Christoph Lieben-Seutter und Anke Fischer, Leiterin der Abteilung Musikvermittlung

Wenn von der Elbphilharmonie die Rede ist, denken die meisten Menschen an ausverkaufte Abendkonzerte, an die spektakuläre Aussicht von der Plaza oder die unablässigen Besucherströme auf dem Weg dorthin. Doch rund 60.000 Gäste pro Jahr erleben die Elbphilharmonie ganz anders. Wenn frühmorgens die Sonne über der Elbe aufgeht, versammeln sich bereits die ersten Schulklassen vor dem Haus, um an einem Instrumentenwelt-Workshop teilzunehmen; oder auch, um ein speziell für junge Menschen entwickeltes Konzert im Großen oder Kleinen Saal zu besuchen. Andere wiederum kommen regelmäßig ins Haus und proben für ein Konzert eines unserer Laien- und Amateur-Ensembles oder für die Aufführung eines von ihnen mitgestalteten Community-Projekts.

Rund 30 Mitarbeiter:innen im Team von Elbphilharmonie und Laeiszhalle planen pro Saison rund 1.000 derartige Veranstaltungen, bei denen es ums Musikmachen und -entdecken geht. Dabei richtet sich das Programm an alle Menschen, mit und ohne musikalische Vorbildung. Im Interview sprechen Generalintendant Christoph Lieben-Seutter und Anke Fischer, Leiterin der Abteilung Musikvermittlung, über das vielfältige Angebot, über ihre Visionen und das Musikvermittlungs-Programm im Kontext des künstlerischen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses des Konzerthauses.

Musik für alle :Ein Film über das Musikvermittlungs-Angebot der Elbphilharmonie

Interview


Interview: Julika von Werder

 

Der damalige Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz hat vor Eröffnung der Elbphilharmonie gesagt, dass jedes Hamburger Kind mindestens einmal in der Elbphilharmonie gewesen sein soll. Klappt das?

Christoph Lieben-Seutter: Ja, sogar mehr als das. Wir nehmen den Anspruch sehr ernst, wirklich auch ein Haus für die Kinder der Stadt zu sein. Und wir glauben, einmal reicht nicht, sondern man sollte gleich mehrfach kommen.

Anke Fischer: Die Kita-Zeit und Schullaufbahn können wir mit unseren Angeboten komplett abbilden. Das Programm für Kitas und Schulen reicht von Workshops der Instrumentenwelt über Schulkonzerte bis zum Format »Zukunfts-Musik« für die Oberstufe, bei dem die Schüler:innen ins reguläre Konzert gehen und davor die Künstler:innen treffen können. Wenn wir in den Konzerten fragen, wer vorher schon mal hier war, meldet sich inzwischen immer weit über die Hälfte der Kinder.


Der Bereich der Musikvermittlung umfasst in der Elbphilharmonie aber keineswegs nur Angebote für Kinder, oder?

Lieben-Seutter: Ja, der Ausgangspunkt für die Elbphilharmonie war, dass sich die Hamburgische Bürgerschaft nicht nur eines der besten Konzerthäuser der Welt gewünscht hat, sondern eben auch ein Haus für alle. Das heißt, unser Musikvermittlungsprogramm versteht sich nicht vorrangig als Mittel zur Publikumsbildung, sondern wir glauben, dass die Elbphilharmonie die sehr breite Aufgabe hat, in der Gesellschaft zu wirken und allen Menschen die Möglichkeit zu geben, Musik zu erleben. Die Musikvermittlung war daher von Anfang an ein integraler Bestandteil des künstlerischen Programms. Dieses breite Angebot ist ins Gesamtprogramm von Elbphilharmonie und Laeiszhalle so sehr integriert, dass es in seiner Gesamtheit gar nicht so leicht wahrnehmbar ist.


Was zählt denn alles zum Bereich Musikvermittlung?

Fischer: Das Thema ist bei uns schon sehr weitreichend. Bei der Arbeit des Musikvermittlungsteams geht es weniger darum, Menschen fürs klassische Konzert zu erziehen oder ihnen etwas beizubringen, sondern darum, dass alle mitgestalten dürfen und dass Menschen an unterschiedlichen Punkten im Leben hier Musik begegnen können.

Lieben-Seutter: Manche behaupten, dass alles, was wir machen, Musikvermittlung ist. Wenn man sich den Aufwand ansieht, den wir täglich für Programmhefte, Konzerteinführungen und multimediale Mediatheksinhalte betreiben, ist da schon was dran.

Instrumenten-Workshop Instrumenten-Workshop © Sophie Wolter
Community-Projekt Community-Projekt © Sophie Wolter
Beat-Obsession Beat-Obsession © Claudia Höhne
Gamelan-Ensemble Gamelan-Ensemble © Claudia Höhne
Familientag Familientag © Claudia Höhne
 © Claudia Höhne
Schulkonzert MEUTE Schulkonzert MEUTE © Claudia Höhne
Community-Projekt Community-Projekt © Jann Wilken
Baby-Konzert Baby-Konzert © Claudia Höhne
Community-Projekt Community-Projekt © Daniel Dittus
Funkelkonzert Funkelkonzert © Sophie Wolter
Klangsafari Klangsafari © Claudia Höhne

Es geht also weniger ums Erklären, sondern mehr ums Erleben?

Lieben-Seutter: Ja, auf jeden Fall. Die für die verschiedenen Altersgruppen maßgeschneiderten »Funkelkonzerte« sind ja zum Beispiel oft richtige kleine Theaterproduktionen mit Dramaturgie, Kostümen, Beleuchtung, Videotechnik etc. Da wird normalerweise nicht erklärt, wer Mozart war oder wie eine Klarinette funktioniert, die Kinder werden viel mehr auf eine Reise mitgenommen, die ihre Fantasie anregt. Sie erfahren dabei, wie es ist, mit ein paar Hundert fremden Menschen ein besonderes gemeinsames Erlebnis zu haben.

Fischer: Neben dem Gemeinschaftserlebnis ist Partizipation ein wichtiger Faktor. Bei den Instrumentenwelt-Workshops kriegen wir oft gespiegelt, dass die Atmosphäre dort wirklich schön ist und sich alle gesehen fühlen mit dem, was sie gerade möchten und können. Obwohl es im Prinzip darum geht, die verschiedenen Instrumente kennenzulernen und ohne Vorkenntnisse auszuprobieren, können die Teilnehmenden oft am Ende bereits ein Stück gemeinsam spielen. So haben alle ein wichtiges Erfolgserlebnis und können erfahren, was es heißt, zusammen etwas zu erarbeiten, einander anders kennenzulernen, sich auszudrücken.


Stichwort Partizipation – welche Formate gibt es da sonst noch?

Fischer: Da gibt es natürlich unsere verschiedenen Mitmach-Ensembles, aber auch Formate wie zum Beispiel »How to Concert«, bei dem Jugendliche ein Konzert im Kleinen Saal planen und auch umsetzen – von der Idee und der Programmierung bis zur Bewerbung und Durchführung. Besonders stolz bin ich auf unsere großen Community-Projekte, weil ich sie wirklich für gesellschaftspolitisch relevant halte: Dabei kommen Menschen unterschiedlichen Alters und verschiedener Herkunft zusammen und erarbeiten über ein halbes Jahr hinweg ein interdisziplinäres Bühnenprojekt, mit Texten, Gesang, Tanz und Schauspiel. Die bis zu 100 Teilnehmenden werden dabei von Profis begleitet, die mit ihnen gemeinsam in den kreativen Prozess einsteigen und eine musikalische Performance entwickeln. Die finale Aufführung im Kleinen oder Großen Saal ist dann ein ganz besonderer Moment. Auf der Bühne der Elbphilharmonie sein Bestes zu geben und anschließend vom Publikum gefeiert zu werden, kann eine lebensverändernde Erfahrung sein.

Community-Projekt »Futur X« (2025)

Lieben-Seutter: Das ist übrigens auch eine Besonderheit des Hauses, dass wir solche Mitmach-Formate so ernst nehmen wie internationale Orchestergastspiele. Wenn so eine Gruppe von Laien im Großen Saal auftritt, dann werden sie genauso behandelt wie die Wiener Philharmoniker – von der Künstlerbetreuung über die aufwendige Technik bis zur Bewerbung und den Programmheften.
 

Neben den Community-Projekten gibt es auch andere Programme in den Hamburger Stadtteilen.

Fischer: Ja, das hat auch damit zu tun, dass es unterschiedliche Gründe gibt, weshalb Menschen den Weg zu uns nicht finden. Zum Beispiel veranstalten wir regelmäßig Konzerte für Menschen mit Demenz, die meistens ihre Einrichtungen nicht mehr verlassen können – deswegen kommen wir zu ihnen. Auch für Kitas ist es oft nicht möglich, in die Elbphilharmonie zu kommen. Viele Produktionen entwickeln wir so, dass man sie gut zusammenpacken und woanders aufbauen kann. Und wir bieten auch Weiterbildungen für Erzieher:innen an, damit sie selbst in ihrer Einrichtung zum Beispiel mit der »Klingenden Kiste« arbeiten können.

Klingende Kiste
Klingende Kiste © Claudia Höhne

Lieben-Seutter: Dazu muss man sagen, dass wir zunächst aus der Not in die Stadtteile gegangen sind: Die Fertigstellung der Elbphilharmonie war ja bekanntermaßen ein bisschen verspätet – da haben wir eben schon mal die Stadt erobert und neben den Angeboten in der Laeiszhalle bereits Musikvermittlungsformate im Namen der Elbphilharmonie in die verschiedenen Stadtteilkulturzentren gebracht. Das hat so gut funktioniert, dass wir unbedingt daran festhalten wollten, auch als das Haus endlich eröffnet war.


Welche Rolle soll die Elbphilharmonie in der Gesellschaft spielen? Gibt es einen klaren Bildungsauftrag?

Lieben-Seutter: Ich sehe unseren Auftrag auf einer ganz grundsätzlichen Ebene, denn bekanntlich sind wir Menschen nun mal soziale Wesen. Es ist ein existenzielles Bedürfnis, etwas mit anderen Menschen gemeinsam zu erleben, sei es als Publikum oder noch besser durch aktive Teilnahme. Und dafür bieten wir den Raum – in ganz verschiedenen Kontexten. Auch die rasanten technologischen Entwicklungen spielen hier eine Rolle. Wir haben gerade die erste Generation von Kindern großgezogen, die stark über elektronische Medien und Social Media mit der Welt interagieren. Viele haben nicht mehr gelernt, miteinander zu diskutieren, zu verhandeln, die Welt zu erobern. Es ist wichtig, in den partizipativen Formaten mit diesen jungen Menschen in aller Ruhe etwas zu erarbeiten, dabei alle mitzunehmen und bei Problemen konstruktive Lösungen zu finden, bis es zu dem beglückenden Finale einer gelungenen Aufführung auf der Bühne kommt. Das ist im besten Fall persönlichkeits- und gemeinschaftsbildend.

Fischer: … und mittlerweile definitiv auch demokratiefördernd. Über die Musik gibt es die Chance, gemeinsam etwas zu kreieren – über kulturelle oder demografische Grenzen hinweg. Diese emotionale Unmittelbarkeit, die Musik schafft, kann ein Gefühl von Zusammenhalt entstehen lassen, ohne auszugrenzen. Die Chance unserer Musikvermittlungsprojekte ist eben, dass sie auch Raum für Menschen schaffen, die sich sonst vielleicht hier nicht direkt angesprochen gefühlt hätten. Deswegen bin ich froh über unseren Stellenwert hier am Haus. Mit rund 30 Menschen im Team sind wir weltweit wohl eine der größten Musikvermittlungsabteilungen überhaupt.

Anke Fischer und Christoph Lieben-Seutter Anke Fischer und Christoph Lieben-Seutter © Claudia Höhne

»Wenn wir die vielen leuchtenden Augen sehen, dann wissen wir, wir haben etwas richtig gemacht.«

Was sind Visionen und Pläne für die Zukunft?

Lieben-Seutter: Die musikalische Bandbreite wird laufend größer, auch weil sich unsere Gesellschaft zunehmend vielfältiger zusammensetzt. Wir bieten schon jetzt Projekte über alle Genres hinweg an. Dabei gibt es viel zu lernen, wie man möglichst alle mitnehmen und die verschiedenen kulturellen Wurzeln ernst nehmen und würdigen kann. Und sich dann aber auch gemeinsam an dem musikalischen Erbe erfreut, für das die Elbphilharmonie eigentlich gebaut worden ist – der klassischen Musik.

Fischer: Es gibt viele Ideen und Visionen, denn der Bereich der Musikvermittlung entwickelt sich schnell weiter. Wir möchten weiterhin versuchen, künstlerische Räume zu öffnen, an denen so viele Menschen wie möglich teilhaben und mitgestalten können. Ein ziemlich erfolgreicher Schritt in diese Richtung war das Konzertprojekt »Let’s Play«, bei dem ein bekannter Gamer auf der Bühne im Großen Saal ein Computerspiel gespielt hat, wobei er live von einem Orchester und einer Geräuschemacherin begleitet wurde. Das Ganze wurde über Twitch gestreamt und hat unfassbar viele Leute erreicht, von denen viele sonst wahrscheinlich kaum mit der Elbphilharmonie in Berühung gekommen wären.

Auch wenn wir sehr viel positives Feedback bekommen, hinterfragen wir unsere Formate natürlich ständig. Dabei ist uns auch der Austausch mit anderen Konzerthäusern wichtig, für den wir seit 2008 alle zwei Jahre gemeinsam mit der Körber-Stiftung den großen internationalen Kongress »The Art of Music Education« hier in Hamburg veranstalten, bei dem es um Zukunftsperspektiven in der Musikvermittlung geht. Es bleibt spannend …


Wann habt ihr einen guten Job gemacht?

Lieben-Seutter: Das fühlt man sofort an der Stimmung im Saal. Wie war die Konzentration? Wie begeistert gucken die Menschen? Und wenn wir dann die vielen leuchtenden Augen sehen, dann wissen wir, wir haben etwas richtig gemacht.

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