Das Chineke! Orchestra bei den BBC Proms

Das Chineke! Orchestra im Portrait

»Den Wandel vorantreiben und die Vielfalt in der klassischen Musik feiern« – ein ganz besonderes Ensemble erobert die Musikwelt.

Um zu erkennen, dass die Klassik eine vornehmlich weiße Angelegenheit ist, reicht ein Blick auf die Bühne und in ein beliebiges Orchester. Oder ein Blick ins Publikum. Oder ein Blick in die Programme. Da spielen weiße Menschen Werke von weißen Komponisten für eine weiße Zuhörerschaft. Zu etwa 98 Prozent ist das so, wie eine Studie der League of American Orchestras aus dem Jahr 2014 ergeben hat – selbst in den USA, wo der Anteil der schwarzen Bevölkerung bei rund 13 Prozent liegt (im Gegensatz zu weniger als 1,5 Prozent in Deutschland).

Soweit der recht eindeutige Befund. Weniger einig ist man sich hingegen bei der Frage nach den Gründen und was man dagegen unternehmen könnte. Schnell ist dann von Rassismus die Rede. In der Wochenzeitung »Die Zeit« etwa kritisierte eine Autorin unter der Überschrift »Die Kolonisierung unserer Ohren« den klassischen Kanon. Andere wiederum sehen gar keinen Handlungsbedarf. Und dann gibt es diejenigen, die einfach die Initiative ergreifen.

Live erleben

Am 26. August 2022 feiert das Chineke! Orchestra unter der Leitung von Kevin John Edusei sein Elbphilharmonie-Debüt – mit dabei: der junge Starcellist Sheku Kanneh-Mason.

»Es muss mehr als nur ein schwarzes Gesicht auf der Bühne geben« :Chi-Chi Nwanoku gründet das Chineke! Orchestra

So wie Chi-chi Nwanoku. Die Musikerin wurde 1956 in London als Tochter einer Irin und eines Nigerianers geboren und entdeckte als Kind eher durch Zufall das Klavierspiel für sich, ehe sie ein Lehrer zum Kontrabass brachte. Zwar strebte sie zunächst eine Karriere als Leichtathletin an, doch eine Knieverletzung setzte diesem Wunsch ein jähes Ende. Und so rückte der Kontrabass wieder in den Fokus. Nwanoku studierte ihr Instrument an der Royal Academy of Music und gehörte 1986 zu den Gründungsmitgliedern des auf Barockmusik spezialisierten Orchestra of the Age of Enlightenment. Mehr als 30 Jahre lang spielte sie in dem Orchester – und war dabei stets die einzige Schwarze im Ensemble.

Für Nwanoku war das irgendwie normal, bis 2014 eine Untersuchung des britischen Kulturministeriums sie mit der Frage nach dem Warum konfrontierte. Kurze Zeit später lud sie der Kulturminister zu einem Auftritt eines Orchesters aus dem Kongo ein. »Als ich nach dem Konzert nach Hause ging, wurde mir klar, dass es im 21. Jahrhundert auch in Europa auf einer Bühne, auf der Beethoven oder Berlioz gespielt werden, mehr als nur ein schwarzes Gesicht geben muss.«

Chi-Chi Nwanoku über das Chineke! Orchestra

Um auf diesen Missstand zu reagieren, kam Nwanoku die Idee, eine Stiftung für ein ethnisch vielfältiges Orchester zu gründen und so das Vorurteil, schwarze Musiker würden nur Jazz oder Hip-Hop machen, ein für alle Mal auszuräumen. Es war die Geburtsstunde des Chineke! Orchestra. Der Name leitet sich aus der nigerianischen Igbo-Sprache ab und bedeutet so viel wie »Gott, der Schöpfer der Welt und des Guten«.

Schon im Jahr darauf gab das Orchester seinen Einstand im Southbank Centre in London. 2017 folgte das Debüt bei den prestigeträchtigen BBC Proms in der Royal Albert Hall; seither ist das Chineke! aus dem britischen Musikleben nicht mehr wegzudenken. Und auch international steigt die Aufmerksamkeit: So gestaltet das Orchester 2022 das Finale des renommierten Lucerne Festival. Und schon zuvor gibt es sein Debüt in der Elbphilharmonie. Ohne Frage ein großer Erfolg für ein so junges Orchester. Doch wie nachhaltig ist er? Und was muss sich noch verändern, damit sich mehr schwarze Menschen vom Klassikbetrieb angesprochen fühlen?

 

»Die Gründung dieses Orchesters ist eine zutiefst notwendige Idee, die die klassische Musik im Vereinigten Königreich für Generationen vertiefen und bereichern könnte.«

Sir Simon Rattle

 

Auch wenn ihr Wörter wie Rassismus oder Kolonialismus nicht über die Lippen kommen, mit Kritik an den bestehenden Verhältnissen hält Chi-chi Nwanoku nicht hinter dem Berg. »Der Grund, warum das Chineke! Orchestra gegründet werden musste, war ein eklatanter Mangel an Vielfalt in der klassischen Musikbranche. Klassische Musik wird, vor allen anderen Genres, als eine Sache für Eliten, für Hochgebildete angesehen. Und klar, ein Instrument zu spielen, zu erlernen, ist teuer. Du musst das Instrument besitzen, den Einzelunterricht bezahlen. Und zwar eine ganze Zeit lang.«

Chineke! Orchestra Chineke! Orchestra © Mark Allan
Chineke! Orchestra Chineke! Orchestra © Mark Allan

Von Anfang an :Das Chineke! Junior Orchestra

Das Problem setze ihrer Meinung nach daher auch viel früher an, bei der frühkindlichen Förderung, und es habe vor allem eine soziale Dimension. Deswegen hat die Stiftung neben dem großen Orchester auch das Chineke! Junior Orchestra ins Leben gerufen, in dem junge Musiker im Alter von 11 bis 22 Jahren erste Orchestererfahrung sammeln und mit finanzieller Unterstützung sowie einem umfassenden Mentoring-Programm auf das Musikstudium vorbereitet werden. Die Zusammensetzung des Orchesters ähnelt dabei dem großen Schwesterensemble: »Mein Ziel ist es, einen Raum zu schaffen, in dem schwarze und ethnisch vielfältige Musiker die Bühne betreten können und wissen, dass sie dazugehören, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes«, sagt Nwanoku.

 

»Wenn auch nur ein einziges schwarzes oder ethnisch gemischtes Kind das Gefühl hat, dass seine Hautfarbe seinen musikalischen Ambitionen im Wege steht, dann hoffe ich, es zu inspirieren, ihm eine Plattform zu geben und ihm zu zeigen, dass Musik, egal welcher Art, für alle Menschen da ist.«

Chi-Chi Nwanoku

 

»Den Wandel vorantreiben und die Vielfalt in der klassischen Musik feiern«, so lautet das Motto und zugleich das Ziel des Chineke! Orchestra und seiner Jugendformation. Und tatsächlich haben inzwischen einige Junior-Orchestermitglieder den Sprung an Musikhochschulen geschafft oder wichtige Wettbewerbe gewonnen. Auch auf das Publikum ist der Funke mittlerweile übergesprungen. »Wer da spielt und was da gespielt wird, all das sorgt für ein diverses Publikum – und zwar auf Anhieb. Weil diese Leute sich bisher nicht willkommen gefühlt haben«, fasst Nwanoku ihre Beobachtungen zusammen.

Neue Vorbilder :Sheku Kanneh-Mason als Solist beim Chineke! Orchestra

Einer, der das ähnlich sieht, ist Sheku Kanneh-Mason. Der britische Cellist, der durch seinen Auftritt auf der Hochzeit von Prinz Harry und Meghan Markle berühmt wurde, hat schon viele Male mit dem Chineke! Orchestra gespielt und ist auch beim Gastspiel in der Elbphilharmonie als Solist dabei. Wie Nwanoku würde auch Kanneh-Mason die klassische Musik nicht per se als rassistisch oder kolonialistisch bezeichnen. Doch er hat erlebt, dass man Schwarzen wie ihm gar nicht zutraue, ein Instrument zu spielen.

Sheku Kanneh-Mason
Sheku Kanneh-Mason © Jake Turney

In einer Fernsehdokumentation erzählte er einmal, dass es ihm früher vor allem an Vorbildern gefehlt hat: »Aufzuwachsen und niemals einen anderen schwarzen klassischen Musiker auf oder hinter der Bühne zu sehen, war eine Herausforderung. Wenn du etwas tust und nie einen anderen siehst, der aussieht wie du selbst, ist das kompliziert. Einer der schönsten Momente für mich ist, wenn ein Kind, vielleicht sogar ein schwarzes, nach dem Konzert zu mir kommt und sagt, wie sehr es von meinem Spiel inspiriert ist, und sich bestärkt fühlt, nun selbst Cello zu lernen. Es ist sehr wichtig für Kinder, jemanden zu haben, zu dem sie aufschauen können.«

Neue Klänge :Über das Repertoire des Chineke! Orchestra

Doch nicht nur optisch bringt das Chineke! Orchestra eine Veränderung auf die Bühnen der Klassikwelt, sondern auch klanglich. Denn wie vielleicht kein zweites Orchester setzt es auf ein vielfältiges und ethnisch ausgewogenes Programm. So bietet sich neben all den Beethovens und Tschaikowskys, die das Orchester natürlich auch im Repertoire hat, immer wieder die Gelegenheit zu Neuentdeckungen. Etwa Fela Sowande (1905–1987), der als Vater der modernen nigerianischen Kunstmusik gilt. Oder William L. Dawson (1899–1990), dessen bedeutendstes Werk, die »Negro Folk Symphony« (inzwischen von den Erben in »African-American Folk Symphony« umbenannt), nun in der Elbphilharmonie erklingt.

Das Chineke! Orchestra spielt Florence B. Prices Symphony No 1

Auch andere Orchester arbeiten mittlerweile daran, das Repertoire der klassischen Musik vielfältiger zu machen, gerade in den USA. Das Philadelphia Orchestra etwa wird bei seinem kommenden Gastspiel in Hamburg auch Musik von Florence B. Price (1887–1953) spielen, die als erste afroamerikanische Komponistin in den USA bekannt wurde. Oder von Valerie Coleman, die von der »Washington Post« 2019 unter die Top 35 der zeitgenössischen Komponistinnen gewählt wurde. Alles Namen, die besonders im europäischen Klassikbetrieb kaum bekannt sind – die man sich aber unbedingt merken sollte.


Text: Simon Chlosta; Stand: 4. Juli 2022

Mediathek : Weitere Beiträge

Video abspielen

: Elbphilharmonie Sessions: Pablo Barragán

Für eine ganz besondere »Elbphilharmonie Session« bringt Weltklasse-Klarinettist Pablo Barragán das Hamburger Mahnmal St. Nikolai zum Klingen.

Krieg und Frieden in der Musik

Wie spricht Musik vom Krieg? Und wie klingt Frieden? Ein Essay.

Alan Gilbert dirigiert Beethoven und Schönberg
Video abspielen

Video on Demand vom 3.5.2024 : Alan Gilbert dirigiert Beethoven und Schönberg

Unter der Leitung seines Chefdirigenten präsentiert das NDR Elbphilharmonie Orchester Schönbergs »Ein Überlebender aus Warschau« und Beethovens berühmte Neunte Sinfonie