Barbara Hannigan

Barbara Hannigan: Ausweitung der Gesangszone

Die Sopranistin und Dirigentin hat eine besondere Beziehung zur Kunst.

Diese Frau ist das mythische Geschöpf der Moderne schlechthin: Alban Bergs Opernheldin »Lulu« ist Verführerin, Todesbringerin, eine von Gewalt umkreiste Naturgewalt. Sie verkörpert die Unheil bringende Pandora; Eva, die Urahnin der Menschheit; Mignon, das fragil-ätherisches Wesen aus dem Nichts; Helena, derentwegen eine Welt zugrunde ging. Kurzum, Lulu ist, wie sie selbst singt: »Weib und nichts als Weib.«

2017, bei der Premiere von Christoph Marthalers Neuinszenierung an der Hamburgischen Staatsoper, war auf einmal eine neue Lulu zu sehen: Diese Lulu tanzte und turnte am Körperband des Akrobaten und flog durch die Luft wie eine Trapezkünstlerin im Zirkus. Absurd waren die Verrenkungen dieser Lulu, atemraubend virtuos, sogar gefährlich, am Rande des Erlaubten. Nein, keine Sängerin der Welt würde so etwas tun. – Nun ja, eine schon: Barbara Hannigan.

Barbara Hannigan in der Elbphilharmonie:

Grenzenlos neugierig

Sucht man nach einem Begriff, der das Selbstverständnis dieser Sängerin und Dirigentin zum Ausdruck bringt, kommt man ihr damit sehr nahe: Hannigan ist grenzenlos neugierig. Sie ist immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen, die über das hinausgehen, was der Betrieb für gewöhnlich zu bieten hat. Es sei, hat sie einmal gesagt, »viel besser, frei zu sein und dabei Fehler zu begehen, als die Kontrolle behalten zu wollen«.

Schon zu Beginn ihrer Karriere legte die kanadische Sängerin den Fokus auf die zeitgenössische Musik. Belcanto hat sie nie sonderlich interessiert, auch im Barock fühlte und fühlt sie sich kaum zu Hause – dafür umso mehr in jener Musik, die das Expressive neu definiert, neu kontextualisiert, zuweilen dekonstruiert: in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Und siehe da, das Wunder geschah: Mit einem Mal hörten Menschen dieser unerhörten Materie mit einer anderen Aufmerksamkeit zu, einfach deswegen, weil es so natürlich erschien, was da geboten wurde. Und wie es geboten wurde: so selbstverständlich, so schön und irgendwie sexy.

Barbara Hannigan Barbara Hannigan © Musacchio-Ianniello-Accademia-Nazionale-di-Santa

»Lieber frei sein und dabei Fehler begehen, als die Kontrolle behalten wollen«

Barbara Hannigan

Ausweitung der Gesangszone

Hannigan profitierte dabei von zwei Dingen: Es gibt keine Partitur, die ihr technisch zu schwierig wäre, und sie kennt keine ästhetische Scheu. Und irgendwann merkte sie bei ihrer Arbeit auf der Bühne, dass es da noch einen anderen Platz gibt, der sie interessiert: das Dirigentenpult – als Ausweitung der Gesangszone sozusagen. Irgendwann genügte es der ehrgeizigen Künstlerin, die Disziplin zu ihren herausragenden Eigenschaften zählt, eben nicht mehr, »nur« als Sängerin auf der Bühne zu stehen. Sie wollte mehr. Und sie spürte, dass es da keine Barriere gab, dass sie, wenn sie da vorn stand, sofort akzeptiert wurde.

Zahlreiche zeitgenössische Komponisten hat das nachhaltig inspiriert. Um nur einige zu nennen: Hans Abrahamsen, Gerald Barry, Magnus Lindberg und Unsuk Chin haben Werke eigens für Hannigan komponiert, ebenso wie Salvatore Sciarrino, dessen »La nuova Euridice secondo Rilke« sie in der Elbphilharmonie zur deutschen Erstaufführung brachte.

Ein Komponist jedoch ragt für Hannigan dann doch heraus: György Ligeti, dessen Oeuvre für sie einen Fixstern bedeutet, insbesondere das Stück »Mysteries of the Macabre« aus der Oper »Le Grand Macabre«. Ungezählte Male hat sie diese absurd-verrückte Pièce aufgeführt, und das in dreifacher Personalunion als (vermeintliche) Dirigentin, Sängerin und Comedien.

»Es gibt keine Partitur, die ihr technisch zu schwierig wäre.«

György Ligeti: The Grand Macabre

Frei ist nur, wer bestens vorbereitet ist

Was so leicht wirkt, bedeutet für die Interpretin härteste Arbeit, wie sie freimütig bekennt: »Es ist eines der schwierigsten Stücke, die ich in meinem Repertoire habe. Ich habe es gelernt wie eine Konzertarie von Mozart. Es ist ein Stück über einen Kontrollfreak. Und wie hat Pierre Boulez einmal gesagt: ›Man kann nicht spontan sein, wenn man nicht zu hundert Prozent auf diese Spontaneität vorbereitet ist.‹ Mit anderen Worten: Frei ist nur, wer bestens vorbereitet ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass Boulez absolut recht hat.«

Text: Jürgen Otten, Stand: März 2017

Dies ist ein Beitrag aus dem Elbphilharmonie Magazin (3/2017).

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