Text: Simon Chlosta, 10.09.2024
Frankreich im 15. Jahrhundert: Es tobt der Hundertjährige Krieg, die französische und die englische Krone kämpfen um die Vorherrschaft. Da tritt ein 17-jähriges Bauernmädchen auf den Plan und behauptet, göttliche Visionen zu empfangen, die ihr befehlen, ihre Heimat von den Engländern zu befreien. Sie verlangt, beim Thronfolger vorzusprechen, und überzeugt ihn von ihrem gottgegebenen Auftrag. In Männerkleidung und mit einem Schwert bewaffnet stellt sie sich an die Spitze des französischen Heeres – und kann tatsächlich die Engländer aus dem besetzten Orléans vertreiben. Es folgen weitere kleinere Siege, dann kommt es zur Niederlage. Sie wird verletzt und gefangengenommen, der inzwischen zum König gesalbte Thronfolger lässt sie fallen und liefert sie an die Engländer aus. Ihr wird der Prozess gemacht, an dessen Ende sie als Ketzerin verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird.
Auftakt: Die Audio-Einführung zum Konzert am 18.12.:
Die Geschichte von Jeanne d'Arc
Was nach der neuesten Fantasy-Serie eines beliebigen Streaming-Anbieters klingt, ist tatsächlich eine wahre Geschichte. Denn natürlich geht es hier um Jeanne d’Arc, im deutschen Sprachraum besser bekannt als Johanna von Orléans. Geboren wurde sie um 1412 in Lothringen, und ihre Geschichte einer Frau aus dem Volk, die das schier Unmögliche schafft, dazu ihr aufsehenerregender Prozess, dessen Akten vollständig erhalten geblieben sind, und vor allem ihre postume Bedeutung als Wegbereiterin eines französischen Nationalstaats machen sie zu einer der spannendsten Figuren des Mittelalters, weit über Frankreich hinaus. Schon bald nach ihrem Tod 1431 wurde Jeanne d’Arc rehabilitiert und das Urteil gegen sie aufgehoben. 1920 spricht Papst Benedikt XV. sie heilig; bis heute gilt sie als Nationalheilige Frankreichs, jährlich geehrt mit einem eigenen Festival in Orléans.
Auch wenn Netflix & Co. noch nicht zugegriffen haben – das in jeder Hinsicht außergewöhnliche Leben der Jeanne d’Arc diente bereits als Vorlage unzähliger Kunstwerke, Filme, Opern und sogar Computerspiele; von William Shakespeare bis Giuseppe Verdi, von Leonard Cohen bis Kate Bush ließen sich Künstler und Künstlerinnen unterschiedlicher Genres von ihrer Geschichte inspirieren.
Historische Parallelen
Eine der (musikalisch) stärksten Umsetzungen gelang dabei dem Schweizer Komponisten Arthur Honegger (1892–1955) mit seinem Oratorium »Jeanne d’Arc au bûcher« (»Johanna auf dem Scheiterhaufen«). Es zeichnet nicht nur ein anrührendes Porträt der Jeanne d’Arc. Komponiert in Zeiten faschistischer Diktaturen, zieht es auch Parallelen zwischen den Jahrhunderten, erst recht, nachdem das zunächst 1935 vollendete Werk nach der Befreiung Frankreichs 1944 – diesmal von den Deutschen – um einen Prolog erweitert wurde, der Jeanne d’Arc als Retterin Frankreichs preist.
Den Auftrag zur Komposition gab 1934 die wohlhabende russische Tänzerin und Schauspielerin Ida Rubinstein, die mit Komponisten wie Claude Debussy und Igor Strawinsky regelmäßig verkehrte und auch mit Arthur Honegger schon mehrfach zusammengearbeitet hatte. Auf sie geht auch die ungewöhnliche Anlage der Komposition zurück, denn da Rubinstein selbst keine Sängerin war, wünschte sie sich für die Hauptrolle der Jeanne d’Arc eine Sprechpartie. Das hat den schönen Nebeneffekt, dass seit der Uraufführung 1938 in Basel bereits zahlreiche prominente Schauspielerinnen die Titelrolle auf der Bühne verkörperten, darunter Ingrid Bergman, die Jeanne d’Arc auch in gleich zwei Verfilmungen spielte. Wenn nun »Jeanne d’Arc au bûcher« erstmals in der Elbphilharmonie aufgeführt wird, ist Marion Cotillard als Johanna von Orléans zu erleben.
Wie ein Musikinstrument
Die französische Schauspielerin, die für ihre Darstellung von Edith Piaf im Film »La vie en rose« 2008 den Oscar erhielt, begleitet diese Rolle schon seit fast zwanzig Jahren. Sie hat sie an der Seite verschiedener Orchester und Dirigenten interpretiert, konzertant und, wie jüngst in Berlin, szenisch aufgeführt, und dabei immer wieder neue Facetten entdeckt. »Vom ersten Moment an hat mich Jeanne d’Arc zutiefst berührt. Sie war eine Frau mit echten Überzeugungen. Sie muss etwas geradezu Magisches ausgestrahlt haben, dass es ihr gelingen konnte, tatsächlich all das zu erreichen, wovon sie überzeugt war«, so Cotillard in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur.
Besonders zeigt sich Cotillard von der Partitur zu »Jeanne d’Arc au bûcher« fasziniert: »Musik und Text sind so kraftvoll, wecken so viele Emotionen. Das Tolle ist, dass ich beim Spielen von der Musik begleitet werde. Es gibt Passagen ohne Musik, dann aber auch prosodische Abschnitte, in denen der Rhythmus der Worte sehr präzise gesetzt werden muss. Das muss alles im Moment der Aufführung zusammenpassen. Die Musik ist so genau austariert, so penibel notiert, und jeder Dirigent bringt mit seiner Lesart etwas anderes zum Vorschein. Das überrascht mich immer wieder.«
Ungewöhnlich sei für sie außerdem, bei der Aufführung »wie ein Musikinstrument behandelt zu werden und agieren zu müssen – eine ziemlich seltene Erfahrung«. Und noch einen wesentlichen Unterschied zwischen ihrer Arbeit beim Film und im Konzertsaal ist für sie von Bedeutung: »Wenn man einen Film sieht, dann macht die Musik ja eine Menge aus. Sie soll an bestimmten Stellen bestimmte Emotionen transportieren, eine bestimmte Wirkung erzielen. Aber wir Schauspieler hören die Musik bei den Dreharbeiten nicht, wir haben während der Aufnahmen nicht diese Unterstützung durch die Musik. Und hier ist es ganz anders. Das ist so – um im Bild zu bleiben –, als ob man Dreharbeiten mit der Filmmusik gleichzeitig machen würde. Die Melodie, die Musik ist bereits da und unterstützt alles, was man macht.«
Marion Cotillard in einer Aufführung von Arthur Honeggers »Jeanne d’Arc au bûcher«
Mystische Visionen
Die Textgrundlage zu »Jeanne d’Arc au bûcher« schuf auf Wunsch des Komponisten der französische Schriftsteller Paul Claudel (1868–1955). Dieser hatte zunächst noch abgelehnt, da er sich der Aufgabe, »die historische Gestalt der Jungfrau von Orléans in einen fiktiven Rahmen zu stellen «, nicht gewachsen sah. Angeblich, so will es die Legende, stimmte Claudel erst eine »mystische Vision« während einer Zugfahrt nach Brüssel um. (Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage muss wohl so unüberprüfbar bleiben wie die Visionen der Jeanne d’Arc selbst.)
Neben der Wahl einer Sprechpartie als Titelrolle besteht der Clou des Oratoriums in seiner dramaturgischen Anlage. Im Libretto erzählt der Dichter die Geschichte nämlich nicht chronologisch. Stattdessen setzt er kurz vor der Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen an und erzählt Jeannes Leben in (teils fiktiven) Rückblenden. Dabei scheut er auch vor surrealen Elementen nicht zurück. So muss Johanna erfahren, dass sie nicht vor ein Menschengericht treten soll, sondern vor Tiere. Das Schwein übernimmt den Vorsitz als Richter, die Schafe fungieren als Beisitzer, und ein Esel bekommt das Amt des Schreibers. Ihr wird erklärt, dass ihre Verurteilung das Resultat eines politischen Kartenspiels sei – die zentrale Szene des Oratoriums. Bei dem Spiel treten die Könige von Frankreich und England sowie der Herzog von Burgund auf, die zugleich die allegorischen Figuren Torheit, Hoffart und Habsucht repräsentieren. Auch der Tod ist mit seiner Gattin, der Wollust, dabei. Am Ende wird Johanna dem Sieger des Spiels, England, ausgeliefert.
Für sein Libretto suchte Claudel eine äußerst vielgestaltige Mischung aus französischen und lateinischen Texten, Bibelzitaten und Volksliedern aus, die die Grundlage für Honeggers Musik bilden. Der Komponist zeigte sich derart begeistert von Claudels Arbeit, dass er ihn später als den eigentlichen Schöpfer des Werkes bezeichnete: »Tatsächlich war Claudels Anteil an ›Jeanne d’Arc au bûcher‹ so groß, dass ich mich nicht als den eigentlichen Autor des Werkes betrachte, sondern nur als einen bescheidenen Mitarbeiter. Der Komponist braucht sich nur führen zu lassen, um all das Klang werden zu lassen. Es genügt, Claudel wieder und wieder seinen Text lesen zu hören. Er tut dies mit einer so plastischen Kraft, dass sich für jeden, der auch nur ein bisschen musikalische Fantasie besitzt, das ganze musikalische Relief daraus ergibt.«
Anrührendes Kinderlied
Und so folgte Honegger den Anweisungen des Textdichters denn auch sehr genau. Äußerst plastisch ist etwa das Hundegeheul der ersten Szene durch die lautmalerischen Klänge eines Ondes Martenot dargestellt, eines frühen elektronischen Instruments. In der Flöte erklingt Vogelgesang, und noch weitere Tierstimmen ziehen sich durch die Partitur. Zudem hat Honegger verschiedene musikalische Gattungen und Stile in die Partitur integriert. Anklänge an die Unterhaltungsmusik seiner Zeit finden sich ebenso wie vom Jazz inspirierte Passagen, französische Volkslieder mischen sich mit barocken Tänzen oder mittelalterlichen Kirchengesängen. All das steht aber nicht beiläufig oder gar beliebig nebeneinander; vielmehr werden die Themen und Motive durch Wiederholungen und Variationen ständig miteinander verknüpft.
Ein besonders anrührender und eindringlicher Moment ist Honegger gegen Ende des Oratoriums gelungen. Johanna versetzt sich hier zurück in ihre Kindheit in der lothringischen Heimat, wo sie erstmals die Stimmen vernommen und mit ihren Spielgefährten das Lied »Trimazô« gesungen hat, das innerhalb des Oratoriums als Symbol für kindliche Geborgenheit steht. Tatsächlich wird die Sprecherin an dieser Stelle, wenn auch nur für einen kurzen Moment, zur Sängerin. Doch dann holt Johanna die Gegenwart ein und ihr versagt die Stimme. Sie steht auf dem Scheiterhaufen, während die laut schreienden Gegner ihren Tod fordern. Ein Priester versucht, sie zum Widerruf ihrer Aussage zu bewegen. Johanna bleibt standhaft. In Flammen aufgehend, fährt sie hinauf in den Himmel und wird von ihren Schutzheiligen empfangen.
This article appeared in Elbphilharmonie Magazine (issue 3/24).
Translation: Clive Williams
Honegger: Jeanne d’Arc with Marion Cotillard
Frankfurt Radio Symphony / Singverein Wien / Soloists / Alain Altinoglu