Tabu

Von der Kinoorgel zum Salonorchester

Der Stummfilm und seine Musik.

Das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, ist so alt wie die Menschheit selbst. Dabei bleiben die Geschichten im Kern dieselben: Es geht um Liebe und Verbrechen, um Vertrauen und Verrat. Doch jede Zeit hat ihr Medium, um diese Geschichten zu erzählen – und seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist dieses Medium der Film.

 

Neue Perspektiven

Erste Experimente mit bewegten Bildern gab es schon im 19. Jahrhundert: Im deutschen und französischen Varieté wurden seit 1895 abgefilmte Alltagssituationen bestaunt, meist nur wenige Sekunden lang. Einer der berühmtesten frühen Filme ist »Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat« der Brüder Lumière.

Nicht viel später kam die Idee auf, fiktive Geschichten als Filme zu erzählen – und man entdeckte rasch eine Vielzahl an Möglichkeiten, diese Geschichten durch Mittel wie Schnitte, Perspektivwechsel, Überblendungen oder Stop-Motion-Technik kunstvoll in Szene zu setzen. So entwickelte sich eine ganz eigene Bild- und Erzählsprache, die die Ästhetik des Films deutlich von der des Theaters unterschied. Eines der frühesten und sicher das legendärste Beispiel für das Aufkommen dieser filmischen Erzählweise ist »Der große Eisenbahnraub« aus dem Jahr 1903. In den folgenden beiden Jahrzehnten entwickelte sich der Film rasend schnell weiter. Die Geschichten wurden komplexer, die Ausstattung monumentaler, Kinos etablierten sich als feste Vorführungsstätten. Die »bewegten Bilder« waren als Medium zur Unterhaltung und Bildung in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Stumm? Von wegen :Die Musik im Stummfilmzeitalter

Bis zum Aufkommen des Tonfilms Ende der 1920er Jahre verfügten Filme über keine eigene Tonspur. Das bedeutet aber nicht, dass sie – wie der Name »Stummfilm« suggeriert – tatsächlich völlig ohne akustische Begleitung aufgeführt wurden. Im Gegenteil: Ton war schon immer ein integraler Bestandteil des Films. Die frühesten Filme wurden mit Live-Musik begleitet, zumeist durch einen einzelnen Pianisten, Violinisten oder Flötisten. Ab etwa 1914 kamen Kinoorgeln als Begleitinstrumente in Mode: kompakte Orgeln, die einen fast orchestralen Klang erzeugen konnten und auch über Spezialeffekte wie Telefonklingeln, Hufgetrappel oder Donnergrollen verfügten. Die Musiker improvisierten entweder oder sie verwendeten sogenannte Cue Sheets bzw. Kinotheken: Sammlungen von bekannten Musikstücken, die zur Untermalung bestimmter Stimmungen – Verfolgungsjagd, erster Kuss, Tod ­– verwendet werden konnten.

Doch auch eigens für einen bestimmten Film komponierte Musik, sogenannte Originalmusik, ließ nicht lange auf sich warten. Zu den ersten Originalmusiken gehört Camille Saint-Saënsʼ Musik zu »LʼAssassinat du Duc de Guise« (Die Ermordung des Herzogs von Guise) aus dem Jahr 1908.

Bedeutende Komponisten der Stummfilmzeit waren unter anderem Gottfried Huppertz (Fritz Langs »Nibelungen«-Filme und »Metropolis«), Edmund Meisel (»Panzerkreuzer Potemkin«), Hans Erdmann (»Nosferatu«) und Hugo Riesenfeld (»Die zehn Gebote«, »König der Könige«). Und auch wenn es mittlerweile längst üblich ist, Filme zu sehen, bei denen Bild, Sprache und Musik eine untrennbare Einheit bilden, übt die Filmvorführung mit Live-Musik bis heute eine besondere Faszination aus – insbesondere im sogenannten »Stummfilm«, der so stumm doch nie gewesen ist.

Eine unmögliche Liebe :Friedrich Wilhelm Murnau: »Tabu«

Als hätte er gewusst, dass es sein letzter Film werden würde, zog Friedrich Wilhelm Murnau bei »Tabu« noch einmal alle künstlerischen Register. Nachdem er sich 1929 mit dem Hollywood-Studio Fox Films zerstritten hatte, weil er sich mit den künstlerischen Zwängen dort nicht anfreunden konnte, erfüllte er sich einen langgehegten Traum: Auf den Südseeinseln Tahiti und Bora Bora drehte er einen Film über die verbotene Liebe zwischen einem jungen Perlenfischer und einem Mädchen, das den Göttern geweiht werden soll. Murnau besetzte den Film ausschließlich mit einheimischen Laiendarstellern. Da er ihn komplett aus eigener Tasche finanzierte, konnte er seine künstlerischen Ideale hier voll und ganz verwirklichen: Traumhafte Naturaufnahmen auf Bora Bora, eine klug durchdachte Kameraführung, die die Figurenpsychologie packend ins Bild setzt, und eine perfekt komponierte Bild- und Szenendramaturgie machen »Tabu« zu einem poetischen Meisterwerk an der Schnittstelle zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Die Uraufführung im März 1931 in den USA sollte Murnau nicht mehr erleben – er starb eine Woche vor der Premiere bei einem Autounfall.

Der Feind im eigenen Körper :Robert Wiene: »Orlacʼs Hände«

Mit expressionistischer Bildgewalt thematisiert Robert Wiene in seinem Film »Orlacʼs Hände« aus dem Jahr 1924 das Unbehagen der Gesellschaft an der Idee der Transplantation von Körperteilen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts möglich zu werden schien: Bei einem Zugunglück verliert der Pianist Paul Orlac beide Hände; auf Bitten seiner Frau transplantiert der behandelnde Arzt ihm die Hände eines Anderen. Was das Ehepaar nicht weiß: Bei dem unfreiwilligen Handspender handelt es sich um den hingerichteten Raubmörder Vasseur. Kurze Zeit später erfährt Orlac jedoch von der Herkunft seiner neuen Hände und sein Leben verwandelt sich in einen Alptraum. Mehr und mehr steigert er sich in die Angst hinein, dass Vasseurs Hände seinen Geist vereinnahmen – eine Angst, die durch rätselhafte Geschehnisse immer mehr an Dynamik gewinnt. Als schließlich Orlacs eigener Vater tot aufgefunden wird, das Messer Vasseurs in der Brust und mit dessen Fingerabdrücken am Tatort, befürchtet Orlac, dass die Mörderhände auch ihn gegen seinen Willen zum Mörder gemacht haben. Mit dem brillanten Conrad Veidt in der Hauptrolle entspinnt Regisseur Wiene in »Orlacʼs Hände« ein meisterhaftes Psychodrama, in dem der Zuschauer selbst nicht mehr zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden kann.

Die live-Musik zum Film stammt von Johannes Kalitzke, der im Konzert auch selbst als Dirigent am Pult steht. Seine Komposition greift das leitmotivartig im Film auftauchende Nocturne von Chopin auf und verarbeitet es zu einem spannungsvollen Klangbogen, der Orlacs Ängste in den Köpfen der Zuschauer höchst wirkungsvoll zum Leben erweckt.

Kampf um eine Seele :Fritz Lang: »Der müde Tod«

Ein junges Liebespaar kehrt auf einer Reise in einen Dorfgasthof ein, wo sich ein Fremder zu ihnen an den Tisch gesellt. Als die junge Frau kurz den Raum verlässt und wiederkommt, sind beide Männer verschwunden. Es stellt sich heraus, dass der Fremde der Tod ist, der gekommen war, um ihren Liebsten zu holen. Die junge Frau folgt dem Tod in seine Festung und bittet ihn um das Leben ihres Liebsten. Der Tod bietet ihr einen Handel an: Wenn sie mindestens eines von drei Leben retten kann, deren Ende bereits nahe ist, soll sie ihren Geliebten zurückbekommen. Nachdem all ihre Versuche gescheitert sind, gibt der Tod der jungen Frau noch eine letzte Chance: Sie soll jemanden finden, der sein Leben für das ihres Liebsten gibt – doch selbst die Alten, Kranken und Armen verweigern das Opfer. Im brennenden Armenhaus schließlich steht die junge Frau vor der Entscheidung, dem Tod ein Baby, das zu verbrennen droht, im Austausch gegen das Leben ihres Liebsten zu geben…

Mit seiner märchenhaften Parabel über eine Liebe, die stärker ist als der Tod, gelang Fritz Lang im Jahr 1921 der Durchbruch. In opulenten Bildern erzählt, ist der Film ein frühes Beispiel für die künstlerische und handwerkliche Meisterschaft Langs, der bis heute zu den ganz Großen unter den Filmregisseuren zählt. Für stimmungsvolle musikalische Begleitung sorgt Manuel Gera, ehemaliger Kantor am Hamburger Michel, an der Elbphilharmonie-Orgel.

Text: Juliane Weigel-Krämer

Die Filmausschhnitte wurden freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden.

Mediathek : Weitere Beiträge

Georges Bizet: Carmen
Video abspielen

Video on Demand vom 21.4.2024 : Georges Bizet: Carmen

Große Gefühle und berühmte Ohrwürmer: Georges Bizets Opern-Hit »Carmen« im Großen Saal – und zwar in seiner Urfassung von 1874.

Krieg und Frieden in der Musik

Wie spricht Musik vom Krieg? Und wie klingt Frieden? Ein Essay.

Video abspielen

: Elbphilharmonie Sessions: Julia Hagen

Die junge Star-Cellistin Julia Hagen erfüllt das Elbphilharmonie-Parkhaus mit Musik von Sofia Gubaidulina