JUAN TIZOL / DUKE ELLINGTON: CARAVAN
Der Orient übte auf europäische Künstler schon immer eine ganz besondere Faszination aus – man denke nur an Goethes »West-östlichen Diwan«, Mozarts »Entführung aus dem Serail«, Karl Mays Abenteuerromane und die sinnlich-prallen Haremsgemälde französischer Maler. Die allermeisten von ihnen blieben allerdings Klischees verhaftet und nutzten das Thema nur als Folie und Rechtfertigung zur Darstellung pikanter Szenen. Auch »Caravan«, komponiert 1936 vom legendären Bigband-Leader Duke Ellington und seinem puerto-ricanischen Posaunisten Juan Tizol, ist von authentischer arabischer Musik so weit entfernt wie eine saudische Karawane vom New Yorker Cotton Club. Zu einem der erfolgreichsten Jazzstandards avancierte es trotzdem – sicher auch, weil die Melodie so wunderbar an ein schwankendes Kamel in der Wüste erinnert.

Dies ist ein Artikel aus dem Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 01/2020), das drei Mal pro Jahr erscheint.
FAZIL SAY: BLACK EARTH
Für die Türkei könnte der Pianist und Komponist Fazıl Say (geb. 1970) der perfekte Kulturbotschafter sein; allerorten begeistert er sein Publikum durch seine hemmungslose Hingabe. Allein, er hadert mit seinem Land: Er verspottete einen Muezzin, der den Gebetsruf gar zu hastig herunterrasselte, und wurde deshalb in erster Instanz wegen Blasphemie verurteilt; er rümpfte die Nase über die in der Türkei verbreitete arabische Popmusik; er beklagte, dass in seiner Heimat »die Religion für politische Ambitionen missbraucht wird«; er würdigte die Anti-Erdogan-Demonstrationen im Gezi-Park. Wie man die Tradition ehren und doch in der Gegenwart leben kann, zeigt sein Klavierstück »Black Earth«, das er standardmäßig als Zugabe spielt. Es ist dem berühmten Balladensänger Aşık Veysel gewidmet, dessen Bağlama-Laute er durch abgedämpfte Klaviersaiten imitiert.
LED ZEPPELIN: KASHMIR
Ein Riff wie in Stein gemeißelt, ein stoisch marschierender Beat, darüber ekstatischer Schamanengesang und orientalisch verschlungene Soli – mit »Kashmir« gelang Led Zeppelin 1975 einer der außergewöhnlichsten (und mit über acht Minuten auch längsten) Rock-Hits aller Zeiten. Ein Song, so monumental wie der Himalaya. Seine besondere Atmosphäre gewinnt er nicht nur durch die Simultanität aus Dreier- und Vierertakt, sondern auch durch die Verwendung fernöstlich anmutender Tonleitern, die Jimmy Page und Robert Plant einige Jahre zuvor bei einer Reise durch Indien aufgeschnappt hatten. Da gerät es fast zur Nebensächlichkeit, dass keines der langhaarigen Bandmitglieder jemals im indisch-chinesischen Grenzgebiet war: Den Text schrieb Plant in der Wüste Marokkos.
»Ein Song, so monumental wie der Himalaya«
ALEXANDER BORODIN: EINE STEPPENSKIZZE AUS MITTELASIEN
1862 schlossen sich in Sankt Petersburg fünf Amateurmusiker unter dem betont selbstironischen Namen »Mächtiges Häuflein« zusammen, um eine neue russische Musik zu befördern. Mit von der Partie waren unter anderem der Marineoffizier Nikolai Rimski-Korsakow, der Forstwirtschaftsbeamte Modest Mussorgsky (meist betrunken) und der Chemiker Alexander Borodin. Inspiration fanden sie in orthodoxer Kirchenmusik, mittelalterlichen Heldensagen oder eben Land und Leuten des riesigen Reiches. In seiner sinfonischen Dichtung schildert Borodin musikalisch, wie eine mongolische Karawane unter russischem Begleitschutz vorüberzieht. Für die Komposition seiner Werke brauchte er allerdings oft recht lange, weil er – wie Rimski-Korsakow berichtete – zwischendurch »immer wieder aufsprang und ins Labor rannte, um nachzuschauen, ob dort nicht etwas angebrannt oder übergekocht war«.
DSCHINGHIS KHAN: DSCHINGHIS KHAN
»Hu, ha, Dsching-Dsching-Dschingis Khan / He Reiter, ho Reiter, he Reiter, immer weiter / Dsching-Dsching-Dschingis Khan / Lasst noch Wodka holen, oh ho ho ho / Denn wir sind Mongolen, ha ha ha ha!« Dass Sänger solcher Zeilen gute Chancen auf den Gewinn des Eurovision Song Contest haben, versteht sich von selbst. Das sah auch Ralph Siegel so, Deutschlands Schlager-Khan, dessen Kunst ungefähr so subtil vorgeht wie einst der Mongolenfürst auf seinen Eroberungszügen. Also schickte er 1979 eine Horde von Stereotypen des wilden Ostens los, quasi die Pelzmützen-Version von Village People. Die Truppe erreichte zwar nur den 4. Platz, setzte sich aber wochenlang an der Spitze der deutschen Charts fest und legte mit »Moskau« (»Werft die Gläser an die Wand / ha ha ha ha ha, hey«) noch nach. Zur Fußball-WM in Russland 2018 wurde der Song wieder exhumiert, zur Anfeuerung von Jogis Jungs. Das Ergebnis ist bekannt.
TAN DUN: MARCO POLO
1271 brach Marco Polo von Venedig aus nach Asien auf. Der (bis heute durchaus umstrittene) Bericht seiner 24-jährigen Reise zum prächtigen Palast des Kublai Khan hat unzählige weitere Entdecker, Händler, Gelehrte und Künstler inspiriert. Doch es blieb einem chinesischen Komponisten vorbehalten, den Stoff 1996 in eine Oper zu verwandeln: Tan Dun, bekannt unter anderem durch die Filmmusik zu »Tiger and Dragon«. Dabei bediente er sich gleich mehrerer Kniffe: Raffiniert verknüpft er europäische Kunstmusik mit Elementen der Peking-Oper und ihrem stilisierten Falsettgesang. Und er versteht die Reise nicht nur geografisch, sondern auch spirituell. So treten mit Marco und Polo gleich zwei Hauptrollen auf, die die aktive und die reflektierende Seite des Charakters darstellen, der am Ende zu innerer Einheit findet. Auch eine Form von Zu-Hause-Ankommen.
PHILIP GLASS: STREICHQUARTETT NR. 3 »MISHIMA«
Yukio Mishima, der wohl bedeutendste japanische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, war ein Mann der Widersprüche. Der schmächtige Intellektuelle betrieb Bodybuilding, kokettierte mit Homosexualität, besetzte 1970 mit einer selbst gegründeten rechtsnationalen Kampfgruppe das Armee-Hauptquartier, um die Wiedereinsetzung des Kaisers zu erzwingen, und beging am Ende rituellen Samurai-Suizid. Zur Verfilmung seines Lebens durch den Regisseur Paul Schrader steuerte Philip Glass den Soundtrack bei. Die trance-artige Minimal Music kann als Entsprechung fernöstlicher Philosophie gelten – setzte sich als Streichquartett aber auch in westlichen Konzertsälen durch.
Text: Clemens Matuschek, Stand: 9.4.2020