Charles Ives

Charles Ives: Ohne Konventionen

»Betäubungsmittel für Schlappohren« wollte er nicht komponieren: Charles Ives, einer der originellsten und eigenwilligsten Komponisten aller Zeiten.

Als »Sonderfall der Musikgeschichte« wird Charles Ives in einschlägigen Musiklexika gern bezeichnet – und das trifft es ziemlich gut. Denn so originell und kompromisslos, vor allem aber so frei von jeglichen Traditionen und Zwängen haben nur wenige komponiert. Diese künstlerische Freiheit konnte sich der 1874 in Amerika geborene Komponist erlauben, weil die Musik in seinem Leben stets nur eine Nebentätigkeit war. Die Brötchen verdiente sich Ives stattdessen als (sehr erfolgreicher) Versicherungsmakler.

Ives’ Wohnhaus in Danbury
Ives’ Wohnhaus in Danbury © Daniel Case\Wikimedia Commons

Dennoch ist Ives’ kompositorisches Œuvre beachtlich. Neben vier großen Sinfonien und weiteren Orchesterwerken (darunter auch das berühmte Stück »The Unanswered Question«) schrieb er unzählige Klavierlieder, zwei Streichquartette, mehrere A-cappella-Chöre und weitere Kammermusikwerke. Hinzu kommen etliche Schriften über musikalische, philosophische und politische Themen sowie Erklärungen, die er seinen Werken zur Seite stellte. Seine faszinierende Kammermusik überrascht oft mit unüblichen und herausfordernden Instrumenten-Kombinationen – vielleicht ein Grund dafür, warum sie viel zu selten auf den Programmen auftaucht.

Carles Ives: The Unanswered Question

Visionen und Experimente

Doch Ives kümmerten solche praktischen Gründe nicht. Entscheidend war einzig und allein die Umsetzung seiner künstlerischen Visionen. Und um diese zu verwirklichen, war er um kein musikalisches Experiment verlegen. Auf diese Weise nahm er schon um die Jahrhundertwende viele der vermeintlich revolutionären Errungenschaften der (europäischen) Avantgarde der 1950er Jahre vorweg, darunter Polyrhythmik, Atonalität und serielle, also streng mathematisch festgelegte Verfahrensweisen. Zugleich pendelte seine Musik zwischen volksliedhafter Einfachheit und komplexer Dissonanz hin und her.

 

»Warum die Tonalität verworfen werden sollte, will mir nicht einleuchten. Warum sie immer herrschen sollte, auch nicht.«

Charles Ives

 

Als prägendste Kompositionstechnik für Ives’ Musik sollte sich jedoch die Collagentechnik herausstellen. So integrierte er mit Freude Unterhaltungsmusik wie Schlager, Gospelsongs und Märsche in seine Werke und versuchte sich vor allem in frühen Arbeiten an der hyperrealistischen Wiedergabe von alltäglichen Klängen wie Glocken und Sirenen. Hinzu kommen zahlreiche Zitate, mit denen er dann doch wieder einen Bogen in die Musikgeschichte schlug.

Diese Vorgehensweise brachte ihm einige Vergleiche mit Gustav Mahler ein, der ebenfalls gern Gebrauchs- und Volksmusik in seinen Werken verarbeitete. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass bei Ives die verschiedenen Sphären unverbunden und durchaus widersprüchlich nebeneinander stehen bleiben, während sie bei Mahler zu einem neuen Ganzen verschmelzen.

Charles Ives: Best-of

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Charles Ives
Charles Ives Charles Ives © Halley Erskine

Utopie der Freiheit: Ives und der Transzendentalismus

Mit dieser pluralistischen Verfahrensweise eiferte Ives seinem Ideal des amerikanischen Transzendentalismus nach und schuf ein musikalisches Spiegelbild der Utopie einer freien und schrankenlosen Gesellschaft.

Die Transzendentalisten, die sich mit ihrer Strömung für eine freiheitliche, selbstverantwortliche und naturzugewandte Lebensführung einsetzten, spielen vor allem bei der »Concord«-Sonate eine entscheidende Rolle. Der Untertitel verweist auf die kleine Stadt Concord in Massachusetts, die manchem als das amerikanische Weimar gilt. Hier trafen sich damals Philosophen und Literaten, die gesellschaftliche Zustände infrage stellten, Missstände in der amerikanischen Politik, Religion und Gesellschaft anprangerten und nach alternativen Lebensformen suchten. Kein Wunder also, dass sich Ives, der sich ebenfalls nicht um Konventionen kümmerte, zugehörig fühlte.

 

Text: Simon Chlosta

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