Schmelztiegel Afghanistan :Musik im Vielvölkerstaat
Die Klangwelten Afghanistans zählen zu den spannendsten Kulturen der Seidenstraße, ja, des gesamten asiatischen Kontinents. Über die Jahrhunderte hat sich hier eine einzigartige Vielfalt entwickelt, eingerahmt von den Traditionen der hindustanischen Musik Nordindiens und Pakistans, von der klassischen Klangkunst und der Volksmusik des Iran und seiner zentralasiatischen Nachbarn sowie Wechselwirkungen bis nach China. All die Facetten des Vielvölkerstaates bündeln sich in der Metropole Kabul, im Künstlerviertel Kharabat. Eine besondere Hochblüte war dort in den 1960er und 70er Jahren zu erleben, der »goldenen Zeit«: die einheimische Volksmusik pulsierte, die Gesänge der Sufis, Bollywood-Anleihen, aber auch Jazz und Pop, die mit den pilgernden Hippies aus dem Westen ankamen. Als die Mudschaheddin und später die Taliban das Sagen hatten, kam es zu einem massenhaften Exodus von Künstlerinnen und Künstlern in alle Welt. Wer in der Heimat blieb (und weiter praktizierte), musste um sein Leben fürchten.
Das ANIM Ensemble in der Elbphilharmonie
am 25. November 2022 im Konzert und am Vortag beim Gewürztasting im Speicherstadtmuseum
Sturz und Aufstieg der Taliban
Nach dem Sturz der Taliban 2001 gelang es, mit der Schaffung des ANIM (Afghanistan National Institute of Music) die Musikszene dieses legendären Klangschauplatzes wiederzubeleben. Eine neue Generation von Musiker:innen, nun auch Frauen und Mädchen, bildeten hier um den Leiter Mohammad Murad Sarkhosh das Ensemble Safar. Sie setzten die Puzzleteile der afghanischen Kunst- und Volksmusik wieder neu zusammen und sorgten für ein Revival in Lehre und Ausübung des afghanischen Erbes, vermittelten dem Nachwuchs das Wissen um Skalen, Rhythmen, Instrumentalstücke und Lieder.
Dies änderte sich jäh mit dem Abzug der US-amerikanischen Streitkräfte von April bis August 2021: Die afghanische Zentralregierung brach zusammen, die Taliban brachten das Land und die Hauptstadt Kabul unter ihre Kontrolle. So verstummte die kurzzeitig erblühte Kulturszene von Neuem. Auch das ANIM musste seine Arbeit vor Ort einstellen. Rettung kam von Seiten der portugiesischen Regierung: Sie stellte 272 Mitgliedern des ANIM, Lehrenden wie Studierenden, humanitäre Visa aus. Seitdem wird das Institut im Exil wieder aufgebaut. In Lissabon wirkt nun auch wieder Sarkhoshs Ensemble Safar weiter. Es hat sich mittlerweile in »ANIM Ensemble« umbenannt.
Das ANIM Ensemble
Das Repertoire der achtköpfigen Gruppe spiegelt den Vielvölker-Reichtum Afghanistans wider, über alle Landesgrenzen hinaus: Musik der lokalen Sufis wechselt sich mit klassischen Stücken ab, die wie in Indien auf dem Skalensystem der Ragas beruhen. Indische Einflüsse machen sich auch durch die Verwendung der Sitar, des Harmoniums und der Tabla deutlich bemerkbar. Die Streichfiedel Ghichak wiederum ist mit der persischen Kamancheh verwandt. Im Zentrum aber steht Afghanistans »Nationalinstrument«, die charakterstarke Laute Rubab, mit ihrem – jedenfalls für westeuropäische Ohren – Banjo-ähnlichen Klang.
Text: Stefan Franzen, Stand: 7.11.2022
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