LUDWIG VAN BEETHOVEN: SINFONIE NR. 7
Im Sinfonieorchester haben nur Holz- und Blechbläser ihr jeweils eigenes Notenpult. Streicher dagegen, die innerhalb einer Stimmgruppe dasselbe spielen, teilen sich paarweise die Noten. »Pultnachbar« lautet der offizielle Terminus für diese symbiotische Beziehung, deren Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: Versteht man sich gut, mag man Klang, Bewegungen, Geruch des anderen? Wer bringt den Bleistift mit? Und vor allem: Wer darf zum Publikum hin sitzen, wer sitzt innen und muss die Seiten umblättern?
Die Frage »Wollen wir pulten?« kommt einer Liebesbekundung gleich. Besonders interessant dürfte unter diesem Gesichtspunkt die Uraufführung von Beethovens 7. Sinfonie abgelaufen sein. Beethoven widmete sie dem Sieg über Napoleon, und voller Begeisterung spielte die gesamte musikalische Prominenz Wiens im Orchester mit, darunter Antonio Salieri, Louis Spohr, Giacomo Meyerbeer, Johann Nepomuk Hummel und Ignaz Moscheles. Wer mit wem pultete, ist leider nicht überliefert.

Dies ist ein Artikel aus dem Elbphilharmonie Magazin (3/2018), das drei Mal pro Jahr erscheint.
RICHARD WAGNER: WESENDONCK-LIEDER
Das reiche Ehepaar Otto und Mathilde Wesendonck leistete sich Mitte der 1850er Jahre einen ganz besonderen Nachbarn: Richard Wagner. Die beiden Opernfans stellten dem Komponisten, der wegen Schulden und revolutionärer Umtriebe in halb Europa steckbrieflich gesucht wurde, großmütig das Gartenhaus ihrer Villa in Zürich zur Verfügung und unterstützten das »Pumpgenie« (Thomas Mann) auch finanziell.
Wagner dankte es ihnen, indem er eine Affäre mit Mathilde anfing. Dabei stilisierte er sich selbst zu Ritter Tristan und sie zu Isolde und brachte diese Fantasie auch gleich in Form der gleichnamigen Oper zu Papier. Ein Nebenprodukt waren die von brennendem Wollen-aber-nicht-können erfüllten »Wesendonck-Lieder«, die Wagner auf Texte von Mathilde komponierte. Am Ende flog die Affäre auf, Wagner musste abreisen.
IGOR STRAWINSKY: DER FEUERVOGEL
Das moderne Ballett geht maßgeblich auf einen einzigen Mann zurück: Sergej Diaghilew. 1909 startete der gewiefte Impresario in Paris die Serie »Ballets Russes«, für die er die besten Tänzer des Sankt Petersburger Mariinski-Theaters engagierte, etwa Vaslav Nijinsky (mit dem er gleich eine heiße Affäre begann). Bei der Suche nach dem passenden Komponisten stieß er auf den 26-jährigen Igor Strawinsky, der in der Folge fünf große Ballette für Diaghilews Truppe schrieb. Den umjubelten Auftakt bildete »Der Feuervogel«, eine ungeheuer farbige, rauschende Musik. Es war die perfekte Verbindung – die bis in die Ewigkeit anhielt: Strawinsky und Diaghilew liegen heute nicht weit voneinander entfernt auf der venezianischen Friedhofsinsel San Michele.
GEORG FRIEDRICH HÄNDEL: THE MESSIAH
Von außen sehen die Häuser an der Brook Street 23 und 25 im schicken Londoner Stadtteil Mayfair ganz normal aus; in den Boutiquen im Erdgeschoss kann man sehr teure Cardigans und Handtaschen kaufen. Doch hier wohnten einst zwei legendäre Musiker Seite an Seite – allerdings um etwa 200 Jahre versetzt: Georg Friedrich Händel lebte von 1723 bis zu seinem Tod 1759 im Haus Nr. 25, wo er seinen berühmten »Messiah« mit dem Welthit »Halleluja« schrieb. Jimi Hendrix mietete sich 1968 in Nr. 23 ein (»Meine erste eigene Wohnung«), war aber nur sporadisch dort.
Getroffen haben können sich die beiden »Nachbarn« natürlich nicht – oder doch? Hendrix behauptete später, eines Nachts sei Händels Geist aus einem Spiegel herausgetreten. Vielleicht wollte er sich bei dem afroamerikanischen Gitarristen ja nur entschuldigen, dass er einst in Sklavenhandel-Aktien investiert hatte – Hendrix’ Großvater war der Sohn einer Sklavin und ihres Besitzers. Oder wollte er einfach auf eine Jamsession vorbeikommen?
»Hendrix behauptete später, eines Nachts sei Händels Geist aus einem Spiegel herausgetreten.«
MILES DAVIS: IN A SILENT WAY
»Den Jazzern waren die elektrischen Gitarren und Keyboards der Rocker zu laut, den Rockern ging die hochtrabende Attitüde der Jazzer auf die Nerven. «
Lange behandelten Musiker aus Jazz und Rock einander wie ungeliebte Nachbarn in einer Studenten-WG. Den Jazzern waren die elektrischen Gitarren und Keyboards der Rocker zu laut, den Rockern ging die hochtrabende Attitüde der Jazzer auf die Nerven. Hin und wieder schlich mal jemand ins andere Zimmer, aber nur auf Zehenspitzen. Der Erste, der auf die Idee kam, die Stärken beider Fraktionen in einer ultimativen WG-Party zu vereinen, war Miles Davis. Sein 1969er-Album »In a Silent Way« gilt (zusammen mit dem Vorgänger »Miles in the Sky« und dem Nachfolger »Bitches Brew«) als Geburtsstunde des Fusion Jazz. Und es ist kein Zufall, dass sämtliche Partygäste – Chick Corea, Herbie Hancock, Joe Zawinul, Wayne Shorter, John McLaughlin – später mit eigenen Fusion-Bands berühmt wurden.
ROBERT SCHUMANN / ALBERT DIETRICH / JOHANNES BRAHMS: F. A. E.- SONATE
Wie viele Geistesgrößen sammelte auch der Komponist Robert Schumann einen engen Kreis von Künstlerfreunden um sich. Als Düsseldorfer Musikdirektor lud er Anfang der 1850er Jahre zahlreiche Musiker ein, darunter die jungen Komponisten Albert Dietrich und Johannes Brahms und den Geiger Joseph Joachim. Auch nach Roberts tragischem Ende in der Nervenheilanstalt blieb diese Gruppe verbunden, musizierte zusammen und fuhr gemeinsam in Urlaub. Sichtbarstes Zeichen der geistigen wie räumlichen Nachbarschaft ist eine Violinsonate, die Schumann, Dietrich und Brahms gemeinsam für Joachim schrieben. Ihr Titel bezieht sich auf Joachims damaliges Lebensmotto, das Brahms übernahm und im Gegensatz zu seinem Freund bis ans Lebensende befolgte: Frei, aber einsam.
JOHN CAGE: 4’33‘‘
Wer kennt das nicht: Man sitzt abends gemütlich zu Hause auf dem Sofa, nippt am Getränk seiner Wahl und hört seine Lieblingsmusik in einer Lautstärke, die der Begeisterung dafür angemessen ist – da klopft es plötzlich mit Nachdruck gegen die Wand. Die Nachbarn wollen schlafen! Da helfen nur Kopfhörer. Oder man beschließt den Abend mit einer Privataufführung von John Cages Stück 4‘33‘‘, erdacht 1952. Es besteht nämlich ausschließlich aus Pausen. Vier Minuten und 33 Sekunden Stille; genauer: das, was man hört, wenn niemand spielt. Also das gedämpfte Rauschen des Windes oder des Straßenlärms von draußen, das Knarren der Dielen oder das leise Säuseln des Blutes in den Ohren. Jeder, der hören kann, wird so zum Komponisten. Versuchen Sie es mal!
Text: Clemens Matuschek, Stand: 12.7.2018