Leila Schayegh

Leila Schayegh: Es geht um jeden Ton

Die Barockgeigerin taucht tief in die Vergangenheit ein – mit einem sehr modernen Gedanken.

Wenn Leila Schayegh musiziert, wirkt das wie ein intensives persönliches Zwiegespräch mit ihrer Geige. Immer wieder gleitet ihr Blick über das Instrument, ihre Mimik scheint zu antizipieren, welche Klangnuance sie als nächstes hören will. Und die wortlose Kommunikation funktioniert bestens: Hauchfeines Wispern, zartes Vibrato, kraftvolle melodische Linien – Schayegh entlockt ihrer Geige einen nicht enden wollenden Strom reich modulierter und in allen Facetten schillernder Klänge.

Dabei ist das, was bei der Schweizerin so spielerisch und leicht wirkt, in Wahrheit haarscharfe musikalische Präzisionsarbeit. Oft sind es winzige Details, die den entscheidenden Unterschied ausmachen: der Druck des Bogens auf die Saiten, das Strichtempo, minimale Veränderungen in der Position des Instruments. Denn Schayegh spielt keine »normale« moderne Geige, sondern eine mit Darmsaiten bespannte Barockgeige. Und diese verlangt nicht nur eine deutlich andere Spieltechnik als ihre moderne Nachfolgerin, mit Auswirkungen auf Körper-, Arm- und Bogenhaltung; im Grunde hängt an dieser Instrumentenwahl sogar eine ganze musikalische Lebensphilosophie: die historische Aufführungspraxis.

Leila Schayegh
Leila Schayegh © Marco Borggreve

Eine Offenbarung :Historische Aufführungspraxis

Deren Kernfrage, wie die Musik früherer Epochen zu ihrer Entstehungszeit geklungen habe, betrifft letztlich alle Bereiche des Musizierens, vom Instrumentenbau über Stimmungssysteme und Spielweisen bis hin zu Notation, Aufführungsorten, ja sogar der Aufstellung der Musiker im Raum. Irgendwann gegen Ende ihres klassischen Geigenstudiums wurde auch Leila Schayegh von der Faszination an dieser Frage gepackt. Sie besuchte einen Meisterkurs bei dem Barockviolinisten John Holloway, der unentwegt nachfragte, nachhakte, nachbohrte – und so den Grundstein für ihr musikalisches Denken legte: »Ich verstand erstmals, dass es in der Musik nicht nur darum gehen kann, was mir gefällt, sondern dass man den ganzen historischen und musikgeschichtlichen Kontext kennen muss, um auf Antworten zu stoßen, die ein plausibles Ganzes ergeben.«

 

»Ich war von dieser Denkweise eingenommen, fasziniert und wie entzündet.«

 

Ein noch schärferer Wind wehte bei Sigiswald Kuijken, einem der Pioniere der historischen Aufführungspraxis: Er nahm Schayeghs Spiel bei einem öffentlichen Kurs mit kritischen Fragen von vorne bis hinten auseinander.  »Jahre später habe ich erfahren, dass das Publikum furchtbar Mitleid mit mir hatte«, erinnert sich die Künstlerin – empfand die Situation damals selbst allerdings ganz anders: »Ich war von dieser Denkweise eingenommen, fasziniert und wie entzündet.«

Die Begegnungen mit Holloway und Kuijken wurden zu den prägenden Momenten im künstlerischen Werdegang Schayeghs. So studierte sie nach ihrem ersten Abschluss an der modernen Geige auch gleich noch Barockgeige bei der Violinistin und Dirigentin Chiara Banchini an der renommierten Schola Cantorum Basiliensis – und lernte dort zweierlei. Zum einen das diffizile Spiel auf der Barockgeige: »Es braucht ziemlich viel Fingerspitzengefühl, um eine Darmsaite mit der richtigen Mischung aus Gewicht und Bogengeschwindigkeit zum Schwingen zu bringen.« Dafür sind die musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten dann aber auch immens: »Da die Darmsaiten sehr viel schneller als Stahlsaiten auf Druck- und Gewichtsänderungen reagieren, kann man die musikalischen Details viel genauer ausarbeiten. Das ist stilistisch auch durchaus erwünscht: Jeder Ton soll gestaltet und verschönert werden, es geht viel eher um kleinräumige Ausformung als um die großen Linien. Jede Harmonie hat in der melodischen Abfolge ihre Aufgabe, ihren hierarchischen Platz und ihre Farbe.«

Leila Schayegh spielt Jean-Marie Leclair

Eintauchen in die Vergangenheit

Der zweite wesentliche Aspekt bei der historischen Aufführungspraxis: Man muss nicht nur spieltechnisch, sondern auch umfassend und allgemein in eine ganz andere, ferne Welt eintauchen: Wie lebten die Menschen früher? Zu welchen Anlässen wurde musiziert? Was bedeuten bestimmte Harmonien und melodische Figuren? Denn gerade in der Musik des Barock verbirgt sich hinter den vordergründig leicht zugänglichen und harmonischen Klängen oft ein beziehungsreiches Netz von Zitaten, Assoziationen und musikalischer Rhetorik. Dieses lässt sich nicht ohne weiteres aus den aufgeschriebenen Noten herauslesen, vielmehr erfordert es solides Hintergrundwissen, um die zahlreichen Bedeutungsschichten entschlüsseln zu können. Schayegh liebt es, diese ferne Welt zu erforschen – zumal dort noch eine schier unübersehbare Anzahl musikalischer Schätze ihrer Wiederentdeckung harrt.

Einer der bereits wiederentdeckten Schätze ist die Musik des Franzosen Jean-Marie Leclair (1697–1764), dem Leila Schayegh im Laufe der letzten Jahre neben Konzerten auch eine Reihe von CD-Einspielungen widmete. Allein die Biografie des in Lyon geborenen Korbflechtersohns könnte einen ganzen Roman füllen: In einer kometenhaften Karriere brachte er es bis zum Hofmusiker Ludwigs XV., am Ende lebte er in einem Pariser Brennpunktviertel, wo er schließlich in seinem eigenen Hausflur erstochen wurde. Sein Schaffen jedoch errang über seinen Tod hinaus internationales Renommee.

 

»Reine Virtuosität hat etwas Plakatives, fast Ordinäres.«

 

Schayegh schätzt an Leclairs Werken insbesondere deren Vielschichtigkeit: »Einerseits ist da eine große Lust am Virtuosen, die man aber nicht so offen zeigen will – reine Virtuosität hat schließlich etwas Plakatives, ja fast Ordinäres. Gleichzeitig aber gibt es da ein tiefes Empfinden, das sich jedoch erst erschließt, wenn man wirklich bereit ist, sich darauf einzulassen.« In ihrem aktuellen Konzertprogramm kombiniert sie Werke von Leclair und Arcangelo Corelli (1653–1713). Im Gegensatz zu seinem eine Generation jüngeren französischen Kollegen war der Italiener bis ans Ende seines Lebens hoch geehrt und gut situiert. Eines allerdings verbindet die beiden Barockkomponisten: »Beide haben sie den Stil ihres jeweiligen Landes maßgeblich beeinflusst und die Violintechnik ihrer Zeit auf ein neues Niveau gebracht«, sagt Schayegh.

Jean-Marie Leclair: Kupferstich von J. Ch. François, 1741
Jean-Marie Leclair: Kupferstich von J. Ch. François, 1741 © Digitaler Portraitindex

Bleibt die Frage, ob sie es heute überhaupt noch als zeitgemäß empfindet, sich mit jahrhundertealten Werken und Spieltechniken auseinanderzusetzen. Schayegh antwortet mit einem klaren Ja: »In ihren Anfängen mag die sogenannte historische Aufführungspraxis wohl sehr rückwärtsgewandt gewirkt haben, sie hat aber seither längst bewiesen, dass sie in der klassischen Musik zum eigentlichen Zweig des Weiterdenkens geworden ist und maßgeblich dazu beiträgt, unser geschmackliches Empfinden zu verändern und zu erweitern.«

Genau dieses Verändern und Erweitern reizt Schayegh tagtäglich aufs Neue – nicht nur als Interpretin, sondern auch als Lehrerin. Seit 2010 gibt sie ihr Wissen als Professorin für Barockgeige an die nächste Generation weiter. Und legt dabei vor allem Wert auf einen zentralen, sehr modernen Gedanken: »Forscht und grabt, so viel ihr wollt – aber vergesst darüber nicht die Musik und ihr eigentliches Ziel: die Menschen von heute zu berühren.«  

 

Text: Juliane Weigel-Krämer, Stand: 14.12.2022

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