Text: Helmut Mauró, April 2025
Selten in der Geschichte der Kunst ging es so turbulent zu wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als binnen weniger Jahre Stil auf Stil folgte, Kunstrevolution auf Kunstrevolution, als sich individualistische Ausprägungen und sozialistische Sichtweisen gegenüberstanden. In der Musik klang noch die deutsche Romantik nach, die französischen Impressionisten, die Expressionisten, die Vertreter einer neuen Sachlichkeit, die Zwölftöner, die Futuristen – alle bestürmten oft gleichzeitig das Publikum, und viele erwiesen sich in der Nachbetrachtung als doch nicht so bedeutend. Wer kennt schon ein Werk oder wenigstens den Namen eines russischen Futuristen?
Hamburg International Music Festival 2025
Programme highlights to close the season: in this edition of the five-week festival, the great Hamburg orchestras and star guests explore the theme of »Future«. The music of Futurism will be featured in a piano recital by pianist Lukas Geniušas on 28 May 2025.
Anders muss es klingen
Zum Beispiel Alexei Wladimirowitsch Stantschinski (1888–1914), der als 19-Jähriger seine ersten Klavierstücke schreibt, bald darauf ein Jahr in einer Nervenheilanstalt verbringt und anschließend seine bedeutendsten Werke komponiert: Klaviersonaten, Skizzen, Präludien in Kanonform. Mit den Futuristen verbindet ihn die Suche nach neuen Ausdrucksformen außerhalb der Grenzen. Das kann auch die Rückbesinnung auf alte Tonsysteme oder Techniken wie die Kirchentonarten oder den Kontrapunkt sein. Es muss aber anders klingen.
Alexei W. Stantschinski: Variationen (1911)
Sehr anders klingt damals Alexander Skrjabin. Dessen atonale Kompositionstechnik wirkt heute zwar nahezu konventionell, für Stantschinski aber ist die Musik des 17 Jahre Älteren ein Zeichen des Mutes, der Freiheit, des Neubeginns – das Fenster in eine ungeahnte Zukunft.
Eine weitere Verbindung mit den Futuristen besteht in Stantschinskis Hang zur Dichtkunst, seinem literarischen Werk. Was ihn ganz klar von den Revolutionären unterscheidet, ist sein Faible für eingängige, gar volkstümliche Klänge. Er ist eben Musiker und nicht abstrakter Klangdenker, und so versucht er immer beides: das musikalisch Verständliche mit einem neuen Ausdruck zu verbinden. Ob er sich in Richtung abstrakterer Klangformen weiterentwickelt hätte, weiß man nicht. Er stirbt 1914 nach einer herbstlichen Flussdurchquerung im Alter von 26 Jahren.
Arthur Vincent Lourié
Ganz anders Arthur Vincent Lourié (1891–1966), der in Sankt Petersburg als Naum Israilewitsch Lurja geboren wird und sich so sehr für Arthur Schopenhauer und Vincent van Gogh begeistert, dass er sich per Namensänderung mit ihnen verbrüdert. Er gilt als erster und wichtigster Vertreter des russischen Futurismus, und auch er ist weitgehend vergessen.
Am Konservatorium seiner Heimatstadt zählt er neben dem gleichaltrigen Sergej Prokofjew zu den größten pianistischen Nachwuchshoffnungen, kommt mit dem Kompositionsprofessor Alexander Glasunow über Kreuz, verlässt das Institut ohne Examen und schließt sich den Futuristen an. Kompromisslosigkeit war sein Programm, und so überwirft er sich später auch mit diesen sowie mit dem einst freundschaftlich verbundenen Kollegen Igor Strawinsky.
Die Umarmung der Moderne
Aus der Bildenden Kunst ist der Begriff des Futurismus geläufig, in der Musik hört man ihn selten. Es gibt Bücher über die Musik des beginnenden 20. Jahrhunderts, mehrere hundert Seiten lang, in denen dieser Begriff nicht ein Mal auftaucht. Was man in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg voraushoffend und heute staunend rückblickend Futurismus nennt, zeigt sich bei näherer Betrachtung weniger als eine Epoche der Kunst- und Kulturgeschichte, sondern eher als ein Begriff für vielfach vorstoßende Versuche, eine neuartig gestaltete, vor allem technisch hochgerüstete Alltagswelt zu begreifen und zu feiern.
Der Futurismus ist die leidenschaftliche Umarmung der Moderne, ein emotional erhitzter Fortschrittsglaube, der hundert Jahre später in sein Gegenteil gekippt ist, in Technologie-Skepsis, Natursehnsucht und Zukunftsangst. All das gibt es vor dem Ersten Weltkrieg natürlich auch, und erst recht danach, als die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Strukturen zusammenbrechen. Es ist die Geburtsstunde der »guten alten Zeit«, die es natürlich nie oder nur für wenige gegeben hatte – aber als emotionales Phänomen eben doch. Der Komponist Richard Strauss hat sie in seiner melancholischen Abschiedsoper »Der Rosenkavalier« schon im Januar 1911 an der Dresdner Semperoper beschwörend untergehen lassen.
Zwei Monate später erscheint das »Manifesto tecnico della Musica futurista« des italienischen Komponisten Francesco Balilla Pratella mit der Forderung, in einer zukünftigen Musik solle die anima musicale, die musikalische Seele der Massen, der Fabriken, der Eisenbahn, Ozeandampfer, Panzer, Automobile und der Flugzeuge widerhallen.
Futuristisches Manifest
Bereits zwei Jahre zuvor, am 20. Februar 1909, hatte der italienische Jurist und Dichter Filippo Tommaso Marinetti in der Pariser Tageszeitung Le Figaro einen Aufruf mit dem Titel »Le Futurisme« veröffentlicht, der für Furore sorgte. Es ist ein fulminantes Pamphlet, mit Verve und Wut geschrieben, in unbekümmerter jugendlicher Euphorie, mit großer revolutionärer Geste. Und doch von erstaunlicher Poesie. »Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit«, lautet die erste Forderung. »Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen.«

In diesem Text sind aber auch schon Denkmuster enthalten, die auf spätere politische Entwicklungen verweisen, vor allem die Intellektuellenfeindlichkeit, die Verachtung der Akademiker:innen und der kulturellen Institutionen: »Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit in die Welt, mit dem wir heute den Futurismus gründen, denn wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien.« Museen seien Friedhöfe, öffentliche Schlafsäle, Schlachthöfe der Maler und Bildhauer. Zur Freude an der Technik gesellt sich die Lust zur Gewalt: »Wir preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.« Das Leben soll ein Kampf sein, der Krieg heroisch, die Musik realistisch brutal. »Bruitismus« heißt folglich der futuristische Klang, in Italien »rumorismo«.
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Das Futuristische Manifest (Auszüge)
Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus
erschienen in: »Le Figaro«, Paris, 20. Februar 19091. Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.
2. Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Dichtung sein.
3. Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.
4. Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake (Statue der Siegesgöttin).
5. Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt.
6. Der Dichter muss sich glühend, glanzvoll und freigebig verschwenden, um die leidenschaftliche Inbrunst der Urelemente zu vermehren.
7. Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muss aufgefasst werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor dem Menschen zu beugen.
8. Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! ... Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.
9. Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.
10. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.
11. Wir werden die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolutionen in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen, und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge.
[...]
Musikalisch Bedeutsames bleibt von den italienischen Futuristen wenig, auch wenn der Komponist Francesco Balilla Pratella eine Systematik mit Vierteltonreihen entwickelt, der Maler und Musiker Luigi Russolo eine musikalische Systematik der Geräusche versucht und mit eigens dafür konstruierten Instrumenten aufwartet. Zu seinen Darbietungen in Mailand und Paris erscheinen immerhin Igor Strawinsky, Sergei Djagilew, Darius Milhaud und Maurice Ravel. Nachhaltige Ergebnisse im Sinne des musikalischen Futurismus finden sich am ehesten bei Edgar Varèse, in dessen »Hyperprism« von 1923 oder der »Ionisation« von 1931. Das Ende des Futurismus in Italien ist mit dem Eintritt des Landes in den Zweiten Weltkrieg 1940 gegeben und mit dem Tod Marinettis 1944. Der hatte sich inzwischen ganz dem italienischen Faschismus verschrieben.
Russischer Futurismus
Die programmatischen Überschneidungen von Futurismus und Faschismus sind augenfällig, und sie gelten auch für eine andere Form des Totalitarismus: den Sozialismus, wie er in der russischen Oktoberrevolution unter der Führung Lenins blutig erkämpft wird. Die russischen Futuristen sind von Anfang an mit von der Partie, ihnen gilt Marinetti noch als zu bürgerlich; eine Vortragsreise nach Moskau endete für diesen mit verbalen Angriffen und Schmähungen. Der damals prominenteste zeitgenössische Dichter, Wladimir Majakowski, schreibt in seinen »Marschgedichten«: »Anerkennen oder nicht anerkennen? Diese Frage existierte weder für mich noch für andere Moskauer Futuristen. Das war unsere Revolution!«
Eine futuristische Oper
Das erste bekanntere Werk des russischen Futurismus ist die im Dezember 1913 aufgeführte Oper »Sieg über die Sonne«, ein Gemeinschaftswerk der Dichter Alexei Krutschonych und Welimir Chlebnikow, des Malers und Musikers Michail Matjuschin und des Malers Kasimir Malewitsch. Das Werk entsteht in Folge des ersten panrussischen Kongresses der Futuristen »Sänger der Zukunft« 1913 in Uusikirkko, heute Poljany. Inhaltlich folgt die Oper dem Programm des Manifestes dieses Kongresses, demzufolge die Zerstörung des Alten Voraussetzung sei für alles Neue. Seltsamerweise wird hier das Alte durch die Sonne symbolisiert, die sonst eher für den Aufbruch ins Neue steht.

Die Verlautbarung des russischen Futurismus-Kongresses steht Marinettis Manifest kaum nach. »Wir proklamieren jetzt die Rechte der Sänger und Künstler, indem wir denen die Ohren zerreißen, die unter dem Schlamm der Feigheit und der Unbeweglichkeit vor Kälte zittern. Zerstören: die wohlklingende russische Sprache, die kastriert und wegradiert wurde von den Sprachen der Götter der Kritik und Literatur. Zerstören: die überkommene Richtung des Denkens. Zerstören: Eleganz, Leichtigkeit und Schönheit der billigen und prostituierten Künstler und Schriftsteller.«
Das Libretto der Oper stammt vor allem von Alexei Krutschonych, der auch Elemente der von ihm entwickelten »Zaum«-Lautsprache einbaut. Malewitschs Bühnenbild liefert kubistische und visionäre Formen, verstärkt durch die Lichteffekte großer Scheinwerfer. In der Musik Michail Matjuschins findet man die Verwendung von Vierteltönen, wie sie auch die italienischen Futuristen und vor ihnen der Pianist und Theoretiker Ferruccio Busoni propagierten, außerdem den gezielten Einsatz von Geräuschen, zum Beispiel der Imitation eines knatternden Flugzeugpropellers.
In dieser Richtung einer bruitistischen Musik arbeitet auch der spätere Filmregisseur Dsiga Wertow in seinem »Laboratorium des Gehörs«, in dem er Geräusche mit Phonographen aufzeichnet und zu »dokumentarischen Kompositionen und musikalisch-literarischen Wortmontagen« verbindet. Im Moskauer Gewerkschaftspalast tritt in diesem Sinne mit den Ingenieuristen ein Geräuschorchester auf, dessen Instrumente aus Motoren, Turbinen, Sirenen und Hupen zusammengesetzt sind. Im Theaterbereich nutzen die Regisseure Wsewolod Meyerhold und Nikolai Foregger bei einigen ihrer Aufführungen unter anderem Maschinen, Metallstangen und Glasscherben zur Klangerzeugung.
Das Ende der Futurkultur
Die russischen Futuristen gestalten auch die große Feier zum 1. Mai 1918, sind Teil der Kulturbrigaden und deren Propagandatätigkeit in den ländlichen Gebieten, und sie übernehmen Funktionärsposten in den staatlichen Kulturgremien. Arthur Vincent Lourié wird Volkskommissar für Musik. Schon zwei Jahre später dreht sich der politische Wind, die revolutionäre Euphorie weicht einer strengen Zukunftsplanung, der Futurismus verflüchtigt sich, Experimentelles muss durch ideologisch zielführenden Inhalt gerechtfertigt sein. Arseni Awraamow gestaltet eine »Sinfonie der Sirenen« als Werk für die produktiven Kräfte – die neue Gattung heißt »Produktionsmusik« –, für die er einen ganzen Stadtteil als Spielstätte ins Auge fasst. Instrumente sind Maschinen, Flugzeugmotoren, Schiffssirenen, Lastwagen und Maschinengewehre. Und dann singen alle, Musiker und Publikum, zusammen »Die Internationale«.
»Sinfonie der Sirenen« (Audio)
Es gibt noch Experimentatoren wie Michail Matjuschin, der am staatlichen Institut der Künste das Verhältnis von Licht, Farbe und Ton untersucht. In kleinen Privataufführungen in seiner Wohnung gestaltet er Produktionen aus Gemälden, Lichteffekten und Klängen – ein verspielter Forscher, der noch geduldet wird. Aber der politische Druck steigt. Arthur Lourié kehrt 1922 von einer Dienstreise nach Berlin nicht mehr in die Sowjetunion zurück. Spätestens ab 1932 gibt es nur noch eine erlaubte Kunst: den sozialistischen Realismus. Alles andere gilt als Formalismus, Intellektualismus. Prominentestes Opfer der neuen Kulturpolitik wird der Komponist Dmitri Schostakowitsch, der dennoch versucht, in seiner Sinfonik das Leiden des Künstlers an der ihm aufgezwungenen Moral darzustellen. Merkwürdig, dass Sergej Prokofjew, der 1918 Russland verlassen hat, 1932 in dieses politische Klima zurück nach Moskau zieht. Auch ihm wirft man schließlich Formalismus vor. Welch ein Irrsinn.
Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 2/25).
- Elbphilharmonie Kleiner Saal
Lukas Geniušas / Piano Recital
Russian Futurism: Works by Scriabin, Shostakovich, Stravinsky, Prokofiev and others – Hamburg International Music Festival