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Musik aus Napoli

Neapel! Traumstadt für Viele, geheimnisvolles Urlaubsziel, legendenumwittert. Romantik, Morde, Müllskandale. Und großartige Musik.

Text: Peter Reichelt, 14.10.2024

 

Die EU-Wahl liegt noch nicht so lange zurück, und sie hat uns wieder Angst eingejagt vor der massiven Reaktion der Wählerschaft auf Zu­wanderung und Migration, die ja immer schon da waren und immer schon wichtig für die gegenseitige Befruchtung der Kulturen und deren jeweiliges Fortkommen. (Eine Hanse- und also Hafen- und Handelsstadt wie ­Hamburg muss da ja ein Lied von singen können.)

Nun, im Falle Neapels war das noch ein bisschen anders.

Doch beträchtlich älter als Hamburg und viel stärker besonnt, hat die Stadt mit Bestblick auf den Vesuv seit Langem schon ganz andere Migrationsbewegungen erlebt. Oberirdisch wie unterirdisch. Diffundierend, sozusagen. Letzten Endes verwundert es nicht, dass eine Metropole auf derart geoaktivem Terrain auch derart vitale interkulturelle Symbiosen gezeitigt hat.

Viva Napoli :21. bis 24. November 2024

Ein Kurz-Trip nach Italien gefällig? Über ein verlängertes Wochenende feiert die Elbphilharmonie die vielseitige Musikkultur Neapels – von höfischen Tänzen des Mittelalters bis zur angesagten Singer-Songwriterin FLO.

Eine Stadt unter der Stadt

Wenn es zur Alltäglichkeit gehört, dass das ­»Unterste« jederzeit »nach oben« geworfen werden kann, dann stellt sich natürlicherweise ein ganz anderes Verhältnis zur Wandelbarkeit des Lebens ein, als das in den mehr oder weniger stabilen Regionen Mitteleuropas der Fall ist. Tief unter den lebhaften Gassen von Neapel schlummert »eine Stadt unter der Stadt«. Ein etwa achtzig Kilometer langes Labyrinth aus eindrucksvollen Höhlen, Zisternen und Brunnen zieht sich durch den gesamten Untergrund. Die Tuffsteinhöhlen liegen vierzig Meter unter der Erde und werden seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. für die unterschiedlichsten Zwecke genutzt: Sie dienten als ­geheime Zufluchtsorte, Kulträume, Katakomben und Abfallhalden. Während des Zweiten Weltkriegs boten sie der Bevölkerung Schutz vor Bombenangriffen und retteten vielen Menschen das Leben.

Hervorgegangen aus einer griechischen Kolonie (Neápolis, die neue Stadt), kam Neapel 1265 unter die französische Herrschaft der Anjou, 1442 bis 1707 unter die Herrschaft Spaniens. Und zwischen diesen beiden Kolonialherren ging es – mit österreichischer Beteiligung – ­immer hin und her bis 1860, als sich Neapel und Sizilien dem neuen Königreich Italien anschlossen. Heute ist die Stadt Verwaltungssitz der Region Kampanien. Ein parteiloser Bürgermeister regiert eine Mitte-links-orientierte Stadtverwaltung für knapp eine Million Einwohner.

Neapel ist aber auch das Zentrum der Camorra, einer der ältesten und größten kriminellen Organisationen Italiens, deren Anfänge bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen.

Neapel im 16. Jahrhundert
Neapel im 16. Jahrhundert © Wikimedia Commons

FOLKLORE UND CANZONE :Das neapolitanische Lied wird zum Erfolgsrezept

Etwa um diese Zeit schwang sich das offizielle Musikleben der Stadt (nach einer ersten Hochblüte im 14. und 15. Jahrhundert und einer kürzeren Phase der Stagnation) wieder neu auf: Diego Ortiz, Francisco Martínez de Loscos und Giovanni de Macque lieferten als Kapellmeister der seit 1444 bestehenden königlichen Kapelle wichtige Impulse für diese musikalische Renaissance Neapels.

Fragt man nach den ursprünglich distinkten Lebensräumen von Volks- und Kunstmusik, muss man genau zwischen den Erscheinungsformen der echten musikalischen Folklore und denen des neapolitanischen Liedes unterscheiden. Spuren der Ersteren finden sich in den Rufen der Straßenverkäufer und in den Ritualen einiger religiöser Feste wie dem der Madonna dell’Arco, die unter einer christlichen Fassade einen im Grunde heidnischen Kern verbergen; Letzteres gehört, obwohl heute quer durch alle Gesellschaftsschichten verbreitet, ursprünglich einer höheren kulturellen Sphäre an.

Im neapolitanischen Lied vermischt sich die volkstümliche Tradition mit Elementen aus Romanze, Opera buffa und dem Salonlied des 19. Jahrhunderts. Es ist daher bezeichnend, dass der Hauptvertreter seiner goldenen Ära rund um 1900 ein raffinierter Dichter wie Salvatore Di Giacomo war, und seine Musiker zwar überwiegend talentierte Improvisatoren, aber doch auch Künstler waren, die die Technik der Komposition perfekt beherrschten, wie Paolo Tosti, Luigi Denza und Enrico de Leva.

Luigi Denza: Funiculi, Funicula

Die authentischste neapolitanische Volksmusik ist die der ländlichen Umgebung der Stadt, wie sie seit den 1970ern wiederbelebt wurde, vor allem durch die ethnomusikologischen Forschungen von Roberto De Simone und durch moderne Bearbeitungen, etwa durch die Nuova Compagnia di Canto Popolare sowie in verschiedenen Bühnenwerken (das bekannteste ist Roberto De Simones »La gatta Cenerentola«, 1976). Dies hat unter anderem zu einer Wiederentdeckung der Villanella beigetragen, eines Strophenlieds aus dem 16. Jahrhundert, das selbst wiederum aus dem Strambotto, einer im 15. Jahrhundert beliebten Stegreif-Form des Lautenlieds, hervorgegangen war.

Spott auf Neapolitanisch :Slang auf der Opernbühne

Der Erfolg der Villanella – der vielleicht einzigen musikalischen Gattung, die in Neapel vor der Opera buffa erfunden wurde – verdankt sich seit den 1550ern vor allem der Verwendung des neapolitanischen Dialekts (der übrigens von der Region Kampanien 2008 per Gesetzesdekret offiziell als Sprache anerkannt wurde), um das elaborierte Madrigal und seine Konventionen auf die Schaufel zu nehmen. Die Villanella fand Eingang in viele musikalische Gattungen und tauchte an den kuriosesten Stellen auf: in den geistlichen Dramen, die in den Konservatorien aufgeführt wurden, in Kammerkantaten und in der Oper. Die einzige erhaltene komische Oper des Komponisten Leonardo Vinci, »Li zite ’ngalera« (1722), beginnt tatsächlich mit einer Villanella.

Trailer: »Li zite ’ngalera« (Teatro alla Scala)

Das Neapolitanische war ein Aspekt der Tradition der Commedia dell’arte, der in die Opera buffa, die komische Oper überging und einen unverwechselbaren neapolitanischen Stil begründete. Zeitgenössische Quellen liefern wertvolle Beschreibungen der Art und Weise, wie Opern zu jener Zeit in Neapel aufgeführt wurden, und geben auch über die wechselseitigen Einflüsse zwischen Komödie, geistlichem Oratorium und heroischer Oper Auskunft. Giulia de Caro, Sängerin und von 1673 bis 1675 Leiterin des Teatro San Bartolomeo, des ersten Opernhauses in Neapel, hatte ihre Karriere in der Commedia dell’arte begonnen – ebenso wie schon ihre Impresaria-Vorgängerin, die Schauspielerin Cecilia Siri Chigi.

Für die Opera buffa des 18. Jahrhunderts übrigens, in der sich ein volkstümlicher Aspekt auch im Einsatz bestimmter assoziierter Instrumente wie der Hirtenflöte Zampogna oder der süditalienischen Laute Colascione manifestierte, geriet dieses Festhalten am Neapolitanischen später zu entschiedenem Nachteil, wurde ihre Verbreitung nach Norditalien oder gar ins Ausland dadurch doch erheblich erschwert.

Traditionsreiche Groß-Events :Kirchliche Riten und unsterbliche Melodien

Noch heute am aufschlussreichsten für die unverwüstliche stilistische Ambiguität neapolitanischer Musikalität sind die beeindruckenden religiösen Feste und Prozessionen wie der Kult der Madonna dell’Arco. Er ist in der gesamten Provinz und in der Stadt Neapel verbreitet und wird von etwa 150.000 Anhängern verfolgt, die jedes Jahr am Ostermontag an der Wallfahrt in das Santuario della Madonna dell’Arco in Sant’Anastasia teilnehmen. Ferner beteiligen sich rund 30.000 battenti, die in den Monaten vor dem eigentlichen Fest einen Zyklus außerkirchlicher öffentlicher Riten abhalten.

Zu den rituellen Praktiken gehören die »questue«, eine rituelle Form des Bettelns, und die »funzione«, bei der die Verehrer der Jungfrau Maria eine öffentliche Huldigung auf der Straße darbringen, die streng kodifizierten choreografischen Abläufen folgt. Insbesondere diese »funzione« findet in Anwesenheit einer Musikkapelle statt, der divisione musicale, die das Ritual und die koordinierten Aktionen der battenti begleitet. Die funzioniare werden von mehr als 600 kultischen Vereinigungen organisiert und durchgeführt, die in verschiedenen neapolitanischen Stadtvierteln und Provinzstädten angesiedelt sind und ihre eigenen Rituale fast völlig unabhängig voneinander planen. Diese Umstände sowie die Verpflichtung zu einem rituellen Zeitplan erlauben eine grobe Schätzung der Anzahl der Mitwirkenden: Wenn man bedenkt, dass jede »Abteilung« aus fünf bis zwanzig Personen besteht, könnte man sagen, dass sich an diesem Großevent mehr als 1.000 Musiker:innen in der gesamten Provinz Neapel beteiligen.

Ein Teil ihres Repertoires gehört zum komponierten Standardrepertoire aller Prozessionen und anderer Riten, bei denen Kapellen in Süditalien nicht wegzudenken sind, beispielsweise populäre religiöse Hymnen wie »Noi vogliam Dio«, »O Maria, quanto sei bella«, »Mira il tuo popolo, bella Signora« oder lokal bekannte Lieder wie die den regionalen Schutzheiligen gewidmeten Gesänge. Hinzu kommen aber sehr unterschiedliche Stücke, die zusammen mit den traditionellen Nummern aufgeführt werden, etwa Adaptionen von Filmmusik oder Popsongs, die wiederum die musikalische Sozialisation der überwiegend jungen Bandmitglieder (zwischen 14 und 20 Jahren!) reflektieren.

Festa dei Gigli in Nola

Ein anderes Beispiel sind die Feste dei Gigli, öffentliche Festveranstaltungen, die jeden Sommer in vielen Städten der Provinz Neapel und in einigen Gebieten des Hinterlandes stattfinden. Die formalen und ästhetischen Merkmale sowie die Praktiken der verschiedenen Feste ähneln ein­ander stark und folgen getreu dem Modell von Nola, das am längsten besteht und am weitesten verbreitet ist.

Die Festa dei Gigli in Nola, immaterielles Kulturerbe der UNESCO, feiert den Heiligen Paolino di Nola und seine Heimkehr nach langer Gefangenschaft im vierten Jahrhundert. Der andächtige Charakter der Veranstaltung dient heute jedoch als Hintergrund für ein aufsehenerregendes und unterhaltsames Spektakel: Das Fest besteht aus einem 24-stündigen Umzug, der am Sonntag nach der Sommersonnenwende stattfindet und dem mehrere Veranstaltungen in den Monaten zuvor vorausgehen. Während der Parade werden imposante, bis zu 25 Meter hohe Architekturen, die »gigli«, von etwa hundert Trägern, den »paranze«, auf Schultern durch die Straßen der Stadt getragen. Wo eine Gruppe von Menschen ein solches Bauwerk dergestalt mit Leibeskräften bewegt, wird von den Trägern naturgemäß ein hohes Maß an Koordination und Konzentration verlangt. Für Sicherheit und Effektivität garantieren hierbei auf den transportierten »gigli« positionierte Ensembles, die den Fortgang rhythmisch stabilisieren.

Nichts ist Tabu

Die Festa dei Gigli weist bemerkenswerte Besonderheiten auf, die sie deutlich von ähnlichen Veranstaltungen unterscheidet, etwa die an der Parade beteiligten Ensembles. Obwohl bis in die 1980er-Jahre hinein Bläser- und Schlagzeuggruppen auf den »gigli« spielten, ist die Anzahl der Trompeten und Saxofone heute auf ein oder zwei Stück geschrumpft und andere typische Instrumente der Bands wie Klarinetten und Posaunen wurden entfernt, während die in der Popmusik üblichen E-Gitarren, E-Bässe und Keyboards hinzugekommen sind und nun über imposante Beschallungsanlagen ertönen, die tatsächlich auf dem »giglio« aufgebaut sind und von Generatoren gespeist werden. Das einzige Element, das von den »traditionellen« Bands übernommen wurde, ist ein Schlagzeug.

Die großen Diskontinuitäten in der Spielweise der Musiker entsprechen den radikalen Neuerungen des Repertoires, das während der Parade aufgeführt wird. Jedes Jahr kommen neue, eigens geschriebene und orchestrierte Kompositionen hinzu. Sie folgen den spezifischen Erfordernissen der verschiedenen Phasen des »giglio«-Transports und weisen jeweils bestimmte rhythmische Muster auf, die die koordinierten Bewegungen der paranze erleichtern. Doch bilden sie nur einen eher kleinen Teil der gesamten Parademusik. Die meiste Zeit über erklingen lange Medleys, die Liedausschnitte unterschiedlicher Herkunft enthalten: TV- und Zeichentrick-Titelmelodien, Jingles, Soundtracks, Themen aus Pop, Jazz, Disco, Funk – nichts ist tabu.

Ein Lied geht um die Welt :Die Geschichte des Hits »’O sole mio«

Wussten Sie eigentlich, dass die berühmteste Canzone napoletana, »’O sole mio«, gar nicht in Neapel, sondern in einer politisch heute sehr prekären Gegend entstanden ist?

Der Komponist Eduardo Di Capua befand sich 1898 mit dem Neapolitanischen Staatsorchester auf Tournee. Eines Nachts in der zu dieser Zeit südrussischen – heute ukrainischen – Hafenstadt Odessa konnte Di Capua der Kälte und seines Heimwehs wegen nicht schlafen. Als am Morgen die Sonne aufging und durch das Hotelzimmer schien, kam ihm die Melodie zu »’O sole mio« in den Sinn. Di Capua unterlegte sie mit Versen des neapolitanischen Dichters Giovanni Capurro. »’O sole mio« ist also ungeachtet seines fernen Entstehungsorts ein neapolitanisches Volkslied, das in der Interpretation von so volksnahen Repräsentanten der Hochkultur wie Enrico Caruso, Beniamino Gigli, Fritz Wunderlich oder Luciano Pavarotti um die Welt gehen sollte.

Andrea Bocelli singt »’O sole mio« im Central Park (2011)

Di Capua schuf auch das berühmte Lied »O, Marie« und starb wie Capurro verarmt, weil es seinerzeit noch kein Urheberrecht, mithin keine entsprechenden Tantiemen gab. Die Rechte seines Welthits hatte das Autorenduo einst für 25 Lire an einen Verlag verkauft. Dieser – aus Sicht der Schöpfer jedenfalls – bitteren Erfolgsgeschichte ist es aber nicht zuletzt zu danken, dass es heute fast überall ein bisschen Neapel gibt.

 

Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 3/2024)

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