verschneiter Birkenwald

Franz Schubert: Winterreise

Ewige Faszination um die bewegende Liedersammlung des Wiener Komponisten.

Ein Wanderer ohne Ziel und Heimat inmitten einer rätselhaften, abgründigen Natur. Es gibt nur wenige Werke, die über Jahrhunderte hinweg eine so ungebrochene Faszination und zugleich beklemmende Wirkung auslösen wie Franz Schuberts Liederzyklus »Winterreise«.

»Schubert war einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Eines Tages sagte er zu mir, ›komme heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses bei anderen Liedern der Fall war.‹ Er sang uns nun mit bewegter Stimme die ganze Winterreise durch. Wir waren über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft.«

Josef von Spaun, ein Freund Franz Schuberts

So erlebte ein Freund des Komponisten Franz Schubert die erste Aufführung der »Winterreise« in kleinem Kreise. Heute sind die ausdrucksstarken, düsteren Gesänge aus dem Repertoire klassischer Liedinterpreten nicht mehr wegzudenken und erreichen ein Publikum weltweit.

Gemälde von Josef Abel
Gemälde von Josef Abel © Kunsthistorisches Museum Wien

Eine Wanderung ohne Rückkehr

»Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh’ ich wieder aus.« Mit diesen Worten beginnt die »Winterreise«, die Franz Schubert 1827 komponierte, ein Jahr vor seinem Tod. Sie basiert auf Gedichten des Schriftstellers Wilhelm Müller, die ihn tief bewegten. Der Zyklus aus 24 Liedern für Gesang und Klavier erzählt vom ewigen Fremdsein, von der Einsamkeit, von Lebensabschied.

Die Hauptfigur ist ein einsamer Wanderer, der durch Eis und Kälte irrt. Nur wenig Konkretes verrät der Zyklus über diesen rätselhaften Menschen. Seine Reise ist keine gewöhnliche, sie hat kein Ziel, sie findet kein Ende. Traum, Wirklichkeit und Abgrund vermischen sich immer stärker in der Wahrnehmung des sich selbst verlierenden Wanderers.

Und noch etwas ist ungewöhnlich an dieser winterlichen Reise: Der Mann wandert durch die verschneite Landschaft, doch sonst geschieht – äußerlich betrachtet – nichts. Denn das eigentliche Drama hat sich schon vor dem ersten Lied ereignet. So wird sein Inneres zum Schauplatz der Gesänge, die alle dieselbe Seelenlage spiegeln. Ausweglos kreisen sie um verlorene Liebe, Schmerz, Hoffnung und Resignation.

»Nie ist die Geschichte der Gefühle mit solcher Innerlichkeit und Kraft erforscht worden.«

Ian Bostridge, Sänger

Verlorene Liebe

Seine Reise beginnt, als er sich in einer kalten Winternacht aus dem Haus der Familie seiner Geliebten stiehlt. Im ersten Lied, »Gute Nacht,« erfahren wir, dass die Beziehung zerbrochen ist. Aus Angst, fortgejagt zu werden, lässt er alles zurück. Im nächsten Lied (»Die Wetterfahne«) heißt es: »Was fragen sie nach meinen Schmerzen? Ihr Kind ist eine reiche Braut.«

Lehnt ihn die Familie als Bräutigam ab, weil er nicht wohlhabend ist? Der Text gibt keine eindeutige Antwort, die Umstände der Trennung bleiben im Dunkeln. Der Rastlose flieht durch Schnee und Kälte, immer wieder holt ihn die die verlorene Vergangenheit ein: Glühende Sehnsucht, Erinnerungen an glückliche Sommertage mit der Geliebten. Doch die wärmenden Gedanken erstarren angesichts der Wirklichkeit.

»Erstarrung« (Ian Bostridge & Julius Drake)

Spiegelbild Natur

Einziges Gegenüber ist ihm die vereiste Natur, die sein Inneres spiegelt: ein verstummter Fluss (»Auf dem Flusse«), unter dessen eisiger Oberfläche es gewaltig rauscht. Der Schnee, der seine Tränen gefrieren lässt (»Gefror’ne Thränen«). Eisblumen erinnern an verlorene Frühlingstage (»Frühlingstraum«), der vertraute Lindenbaum an die zerbrochene Liebe – aus den rauschenden Zweigen hört er jetzt jedoch den Tod rufen.

»Der Lindenbaum« (Ian Bostridge & Julius Drake)

Schuberts Winterwanderer kommt nicht zur Ruhe. Zunehmend verliert er den Bezug zur Realität. Ein fahles Licht führt ihn in die Irre. Eine Krähe wird zu seinem Begleiter. Ein Todeszeichen?

Verschmäht vom Leben – und vom Tod

Der Wanderer findet keine letzte Ruhe. Aber auch unter den Lebenden gibt es keinen Platz mehr für ihn: Dass er ein Ausgestoßener ist, erkennt er, als er nachts durch ein Dorf geht (»Im Dorfe«), verfolgt von Hundegebell. Ein Wegweiser führt ihn zu einem Wirtshaus, das sich als Friedhof entpuppt. Doch selbst dort wird er abgewiesen.

»Das Wirtshaus« (Ian Bostridge & Julius Drake)

Das letzte Lied

Schließlich trifft der verlorene Reisende einen Mann mit einem Leierkasten, von dem keiner Notiz nimmt – ein Ausgestoßener wie er selbst. In ihm findet er einen musikalischen Weggefährten. Das letzte Lied, »Der Leiermann«, basiert auf einem immer gleichen, um sich selbst kreisenden Motiv. In seiner Monotonie spiegelt es den unlösbaren Kreislauf der Reise zwischen Leben und Tod. Am Ende scheinen sogar die Emotionen zu erstarren.

»Der Leiermann« (Matthias Goerne & Markus Hinterhäuser)

Text: Laura Etspüler, Stand: 1.12.2021

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